39 - Wahre Worte sind nicht schön

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„Was möchtest du essen?" Papa steht vor dem geöffneten Kühlschrank und guckt mich fragend an. Ich überlege kurz. „Kartoffelsuppe?" Papa zieht eine Augenbraue in die Höhe. „Eine Suppe?" Ich nicke. „Okay. Da wird sich Toni ja freuen." Pech gehabt. Und das nur beim Essen. Ich habe ständig Pech, und das richtig.
„Du schneidest die Würstchen, ich mache die Kartoffeln", gibt Papa die Anweisung, der ich nur mit einem Gähnen begegne und mir ein Messer aus der Schublade nehme. „Es wird Zeit, dass du mal untersucht wirst." Ja, das wird es vielleicht wirklich.

Und so stehen wir nebeneinander, Papa am Schälen, ich am Schneiden. Doch langsam wird mir komisch. Meine Sicht verschwimmt immer wieder für den Bruchteil einer Sekunde und ich muss meine Augen zusammenkneifen, um wieder klar zu sehen. Das Brett mit den Würstchen bewegt sich. Ich halte kurz inne, schließe die Augen und atme tief durch. Der Schwindel mag mich anscheinend, denn weggehen will er nicht. „Was ist los?" Natürlich entgeht es Papas scharfem Sinn für Gesundheit nicht. Obwohl meine jetzige Situation keinem entgangen wäre. „Alles gut", wehre ich ab, reiße mich zusammen und nehme das Messer wieder in die Hand. Ein Schlüssel dreht sich in der Haustür. Meine Beine werden weich. „Ich bin wieder da!" Meine Hand, in der ich das Messer halte, zittert. „Fine?" Papa nimmt mir das Messer aus der Hand. Ich stütze mich mit beiden Händen an der Arbeitsfläche ab. „Tief durchatmen", sagt Papa ruhig. Alles bewegt sich. Meine Beine drohen, mich nicht mehr länger zu halten. „Ist alles okay bei euch?" Ich spüre den kleinen Windzug, den die gerade angekommene Person hinter mir verursacht hat. Hinter mir steht jemand, es ist sicher. Und diese Chance nutzt auch gleich mal mein Körper, denn er lässt nun auch die letzte Kraft fliehen.

„Fine, mach deine verdammten Augen auf!" Meine Lider flackern, bis sie sich endlich wieder aufhalten können. Ich starre an die Decke der Küche. Oder besser gesagt in Phils Augen, dessen Kopf gerade über mir hängt. Seine Hand an meinem Hals, die den Puls misst. „Puls ist aber kräftig und stabil", murmelt er eher zu sich selbst als zu Papa. „Was ist los?", wendet er sich dann an mich. „Ich weiß es nicht. Mir war nur ein bisschen schwindelig." „Ein bisschen schwindelig ist gut. Du bist umgekippt." „Wie lang war ich weg?" „Nicht lang. Du bist umgekippt und dann eigentlich direkt wieder zu dir gekommen. Aber ich denke, wir sollten in die Klinik fahren." Mein Oberkörper fährt sofort in die Senkrechte. Gerade so hat es Phil geschafft, seinen Kopf aus der Bahn zu ziehen. „Nein." „Aber...." „Nein Phil, ich komme nicht mit in die Klinik. Morgen nimmst du mich doch mit, da müssen wir nicht jetzt hingurken." „Hingurken", äfft er mich etwas verärgert nach. „Als ob du da aus Spaß an der Freude hingehen würdest." Ich stehe auf und lasse Phil allein auf dem Boden sitzen. Kurz muss ich mit geschlossenen Augen tief durchatmen, doch diesmal verschwindet mein Schwindel wirklich. Zumindest fast komplett. „Geht doch wieder, wo ist das Problem?" Papa guckt mich sauer an. Auch wenn die Sorge in seinem Blick überwiegt. Damit verschwinde ich nach oben in mein Zimmer.

Die Ruhe wird mir nicht lange gegönnt. Es klopft an meiner Tür. „Was?" „Komm bitte ins Wohnzimmer. Wenn wieder was passiert, bekommt das hier oben keiner mit", bittet Phil mich freundlich. „Na und?" „Josefine! Du bist 16 Jahre alt, langsam solltest du dafür Verständnis haben." Jetzt klingt er nicht mehr ganz so gemütlich. Genervt stöhne ich auf, schnappe mir meine Decke und reiße die Tür auf. Ohne Phil eines Blickes zu würdigen, gehe ich an ihm vorbei und schmeiße mich auf die Couch. Meinen Schwindel habe ich ignoriert. Soweit man den ignorieren kann. „Zufrieden?" „Ja!", kommt es einstimmig von Papa und Phil zurück. Dann schlafe ich auch schnell ein, wie soll es anders sein.

„Untersuchst du mich?" Müde lehne ich an der Fensterscheibe des Beifahrersitzes und beobachte die Regentropfen, die an der Scheibe abperlen und ein Wettrennen veranstalten. Es ist kurz vor 6 Uhr. Wieso muss Phils Schicht auch so früh beginnen? Ich spüre, wie er mir einen kurzen musternden Blick zuwirft, sich dann aber schnell wieder auf die Straße konzentriert. „Du pennst ja gleich ein."
„Bei dieser Uhrzeit verständlich." „Nicht bei deinem Schlafkonsum." „Das war nicht die Antwort auf meine Frage."
„Nein."
„Nein?"
„Nein, ich untersuche dich nicht."
Jetzt werde ich doch etwas wacher. „Wie du untersuchst mich nicht?"
„Bin ich ein Kinderarzt? Du wirst auf der Kinderstation durchgecheckt."
„Aber Phil. Nein. Kannst du mich nicht untersuchen?"
„Ich habe Dienst in der Notaufnahme, nicht auf der Kinderstation."
„Ja und? Das bekommst du doch bestimmt geregelt."
„Dadurch werde ich auch kein Kinderarzt."
„Du bist Arzt und hast studiert, reicht doch."
Phil atmet tief durch, worauf eine Zeit lang Schweigen eintritt. Nur die Geräusche des Autos sind zu hören.
Ups, ich glaube, ich habe Phil ganz schön ans Ende seiner Nerven gebracht. Ging bei ihm heute aber auch schnell.
„Gut."
„Was gut?" Ich drehe meinen Kopf zu ihm.
„Ich gucke, was sich klären lässt."
Ein Grinsen stiehlt sich auf meine Lippen. „Danke." „Hör auf so zu grinsen. Du weißt, dass ich mich nicht durchsetzen kann. Und das nutzt du schamlos aus." Er fährt auf den Mitarbeiterparkplatz und stellt den Motor ab. Dann dreht er sich zu mir. „Du kannst dir nicht vorstellen, welche Sorgen wir uns um dich machen. Durchgängige Müdigkeit mit so viel Schlaf kann alles sein. Von einem einfachen Mangel bis zum Tumor am Gehirn." Ich verdrehe die Augen. Sorgen. Wie immer. „Phil, mach mir keine Angst." So schlimm habe ich nun noch nicht gedacht. „Ach, dann kannst du unsere Sorgen ja diesmal vielleicht ansatzweise verstehen. Ja, ich habe studiert. Alex auch. Dein Vater hat eine schwere und intensive medizinische Ausbildung mit sehr viel Berufserfahrung. Wir kennen alle möglichen Krankheiten, von Lappalien zu todernsten, die als Symptome Müdigkeit, Schwäche und blasse Farbe haben. Da sind unsere Sorgen nun mal berechtigt. Doch du bist ständig davon genervt, obwohl wir nur das Beste für dich wollen."
Ich schlucke. Phil war schon lang nicht mehr so ernst in meiner Gegenwart, wie er es jetzt ist. Er macht mir eine riesen Angst. Und ruft Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen hervor.

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Ich hoffe, dass ich heute noch zu einem zweiten Kapitel komme. Wenn ich vor Verzweiflung aufgrund dieser egoistischen und ignoranten Gesellschaft nicht schon einen Nervenzusammenbruch bekommen habe.

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)


7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now