89 - Ein harmloser Vorgeschmack

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Am nächsten Tag wache ich mal wieder relativ spät auf, was für mich eigentlich untypisch ist.
Mein erster Gedanke gilt Tim. Ich will nicht, dass er meine Gedanken beherrscht. Er hat mir ein paar Nachrichten geschickt, in denen er um ein Gespräch bittet, jedoch habe ich ihn ganz schnell blockiert. Es gibt nichts mehr zwischen uns zu bereden, egal, wie oft er darum bettelt. Er hätte einfach nicht diesen Fehler begehen dürfen.
Auch wenn mein Körper in letzter Zeit so viel Schlaf braucht, schreit er förmlich nach Bewegung. Gerade jetzt in der Sache mit Tim würde mir Sport guttun. Und durch meinen wunderbaren Hang zu Unfällen hatte ich in letzter Zeit immer irgendeine Verletzung, durch die ich keinen Sport machen konnte. Beim Turnen könnten die fast denken, dass ich keine Lust mehr habe. Aber im Gegenteil, ich vermisse die Halle so sehr. Und dehnen müsste ich mich auch langsam mal wieder.
Ich mache eine kurze Bestandsaufnahme meines Körpers. Nichts tut weh. Also was spricht gegen etwas joggen? Die würden mir hier zwar den Kopf abreißen, wenn sie das wissen würden, wäre ich doch eigentlich noch im Krankenhaus, aber das ist mir egal. Muss ja keiner erfahren.
Ich gehe im Kopf grob die Dienstpläne durch, die bei uns immer am Kühlschrank hängen - müssten alle arbeiten sein. Und von Toni geht so oder so keine Gefahr aus, ist er doch wieder bei seiner Jamira.

Keine fünf Minuten später stehe ich in Leggings und Sportshirt vor meinem Spiegel. Wie gut sich das anfühlt, Sportkleidung zu tragen.
Zu guter letzt nehme ich noch meine Laufschuhe aus dem Schrank, die ich fast noch nie getragen habe. Wann auch, bei meinen Verletzungen?
Fröhlich hüpfe ich nach einem kurzen Abstecher ins Badezimmer die Treppe runter. Doch beim Blick durch das Wohnzimmer in den Garten denke ich, dass ich schon wieder Halluzinationen habe. Nicht, dass ich schon mal welche hatte, aber es kam mir schon des öfteren so vor.
Ich bleibe starr stehen, flache meinen Atem ab, erstelle in Sekunden eine Pro- und Kontraliste. Sollte ich Phil fragen, ob ich gehen darf? Oder ihm einfach Bescheid geben und dann abzischen? Aber überhaupt - was macht er bitte hier? Vielleicht sollte ich mir die Dienstpläne mal abfotografieren, damit ich mich nicht mehr irren kann.
Mir wird die Entscheidung, die noch gar nicht vorhanden war, jedoch von Phil abgenommen, der aufsteht und sich umdreht. Sein Blick trifft sofort meinen. Und natürlich merkt er gleich, was ich vorhabe.
Seine erste Reaktion? Kopfschütteln.
Ich stöhne genervt auf und gehe ihm auf halbem Weg entgegen, denn natürlich will er sofort mit allen Mitteln probieren, mich festzuhalten.
„Du gehst jetzt nicht joggen, das kannst du dir abschminken."
Ich verdrehe meine Augen. „Was machst du überhaupt hier?" Mir fällt es schwer, ordentlich mit ihm zu reden. Leider ist mir auch unser Streit wieder in den Kopf gekommen. Und irgendwie nehme ich ihm das noch immer übel, obwohl ich das gerade bei Phil eigentlich gar nicht kann.
„Ich habe frei?" 
Wusste ich es doch, ein Foto wäre praktischer gewesen. Nächstes Mal. „Phil, ich brauche die Bewegung aber", murre ich und drehe mich wieder um, um zu gehen.
„Genau, du wärst eigentlich noch in der Klinik. Willst du gleich wieder Bekanntschaft mit dem Boden machen und im RTW landen? Nein? Dann bleib hier."
Ich bleibe stehen und halte kurz inne, ehe ich ihm einen Vorschlag mache: „Und was ist, wenn du mitkommst? Immerhin habe ich eh noch was gut bei dir, das weißt du."
Er scheint kurz zu überlegen. Und ich weiß, dass er durch sein schlechtes Gewissen momentan nahezu alles für mich machen würde. Das schlechte Gewissen, dass er Tim so verteidigt hat, nagt förmlich an ihm.
Allein an seinem tiefen Atemzug kann ich seine Entscheidung schon erahnen.
„Na schön, dann ziehe ich mich um. Aber wir übertreiben es nicht. Sobald du nur irgendein Problem hast, sagst du mir das. Und das bleibt unter uns, Franco darf das erst recht nicht erfahren. Abgemacht?"
Ich fange an zu grinsen. „Abgemacht."

Es ist ein wirklich schönes Gefühl, wenn man recht hat. Und wer hatte recht? Ja, ich leider nicht.
Unser Sportausflug ist damit geendet, dass Phil mich nach Hause gestützt hat, weil mir so schwindelig war. Aber ich schiebe das schön aufs Wetter, es ist einfach so warm.
Phil hat mich zu Hause auf der Couch geparkt und mir sehr viel Wasser eingeflößt. Und mit sehr viel meine ich sehr viel. Danach ging es mir auch wirklich wieder super, außer dass mein Kopf etwas gedrückt hat. Aber meine Güte, davon sterbe ich nicht.
Was mir wiederum leid tut, ist, dass Phil sich danach Vorwürfe gemacht hat. Dafür habe ich ihm langsam verziehen, was die Sache mit Tim angeht. Ach Mann, was ein Dilemma zwischen uns.

Die nächsten zwei Tage vergehen ereignislos. Ich lag eigentlich durchgehend im Bett, aus Angst ich könnte etwas anrichten, was uns den Urlaub ausfallen lässt. Und das Risiko wollte ich auf keinen Fall eingehen. 
Anni hat diese Zeit mit mir verbracht und mir dabei geholfen, kiloweise Eis zu essen. Und Gummibärchen. Und Pizza. Und Pommes. Irgendwie hatte ich das Gefühl, so das Loch stopfen zu können, welches Tim erfolgreich verursacht hat. Außerdem würde es meiner Figur nicht schaden, mal wieder etwas zu bekommen. Langsam sehe ich ja selbst irgendwie ein, dass ich meinen Körper durch die ach so gesunde Ernährung eher zerstört habe. Irgendetwas muss beim Sturz auf den Wannenrand in meinem Kopf doch kaputtgegangen sein.

Zum Flughafen müssen wir sehr früh los. Oder eher mitten in der Nacht. Um drei, um genau zu sein. 
Toni freut sich auf Italien, ohne Zweifel, aber ich sehe, dass ihm die drei Wochen ohne Jamira schwerfallen werden. Ich würde Tim bestimmt auch vermissen.
Leider ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich an Tim denke. Besser gesagt gefühlt alle fünf Minuten. Aber das ist ja normal, wurde mir zumindest von jedem hier gesagt. Denn ich habe mich bei jedem hier mindestens einmal ausgeheult. Wobei Paula wohl die größte Hilfe war, sind die Männer doch eher darauf fokussiert, dass sie mich nicht weinen sehen können, weil sie das so schrecklich finden, mich traurig zu sehen. Die haben Probleme.

Ich sehe den Urlaub in Italien als eine Art Neustart. Als Hoffnungsschimmer, dass mir dieser verdammte Spiegel nicht mehr im Weg steht.
Im Flugzeug sitze ich am Fenster, neben mir Alex.
„Denkst du, dass mich der Spiegel jetzt in Ruhe lassen wird?", frage ich ihn, nachdem wir abgehoben sind.
Und wieder fühle ich mich so dumm, dass ich jetzt ernsthaft selber daran glaube. Aber es ist einfach verdammt beunruhigend, wenn einem plötzlich bei den alltäglichsten Dingen irgendwelche, teilweise sehr gefährliche, Missgeschicke unterlaufen.
Er macht ein belustigtes Gesicht. „Als würde der Spiegel vor einem fremden Land Halt machen. Weil er sich da nicht auskennt oder was?"
Ich haue ihm aufs Bein. „Das wollte ich jetzt nicht hören. Male den Teufel am besten gleich an die Wand, weißt du?"
„Was denn? Du hast mich gefragt, ich habe dir eine ehrliche Antwort gegeben."
Ich schnaube und schließe meine Augen. „Gute Nacht, ich schlafe jetzt", brumme ich.
„Gute Nacht, Kleines", lacht er.

Ist das ein kleiner Vorgeschmack des Spiegels?
Papas Schwester, die in Italien wohnt, wollte uns mit ihrem Mann mit zwei Autos vom Flughafen holen. Auf dem Weg zu uns hatten beide jedoch eine Panne. Beide. Wie kann das passieren?
„Na wenn das nicht dein Spiegel war. Als nette Begrüßung", bemerkt Alex grinsend.
„Nicht witzig", knirsche ich.
Und so beginnt unser Urlaub bei der Familie mit einer schier nicht enden wollenden Reise ins zweite Zuhause. Bei diesen Temperaturen gibt es deutlich angenehmeres.
Warum kein Taxi? Weil die gerade angeblich ausgelastet sind.
Es war mein Spiegel, definitiv.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now