83 - Der Kopf verliert - haushoch

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Hemmungslos laufen die Tränen über mein Gesicht. Ich habe aufgegeben, sie wegzuwischen. Bringt nichts.
Anni setzt sich zu mir und nimmt mich in ihre Arme.
„Der Typ hat deine Tränen nicht verdient", flüstert sie.
„Kann mich mal einer aufklären? Da hat man einmal Nachtschicht und verpasst dein ganzes Leben."
Ich hebe meinen Kopf und gucke zu Alex, der inzwischen an meiner anderen Seite sitzt.
Ich nicke in Annis Richtung. Sie versteht und erklärt ihm alles.
„Aber Fine, du hättest ihm trotzdem keine scheuern müssen", wirft Phil sanft ein.
Mein Blick schnellt zu ihm. Er steht hinter dem Couchtisch, sein Blick schwimmt praktisch im Mitleid. Warum muss er mir das dann jetzt vorwerfen?
„War halt ein Reflex. Du hättest ihm nicht helfen müssen", rechtfertige ich mich unverständlich zwischen den Schluchzern.
„Gewalt ist aber keine Lösung", beharrt er weiter.
„Phil, was ist mit dir los? Statt mich mal irgendwie zu verstehen, kommen von dir nur Vorwürfe!" Ich merke, wie ich erneut beginne, die Kontrolle zu verlieren. „Ich habe mich gerade von meinem Freund getrennt, und du kannst nichts besseres, als ihn in Schutz zu nehmen! Aus welchem Grund tust du das?"
Ich springe auf. „Ich brauche Zeit für mich", murmele ich, wische mir erneut Tränen weg und mache mich auf den Weg nach oben.
„Also ich verstehe Fine total. War halt ein Reflex", höre ich Alex sagen. Danke, wenigstens einer.
Auf der Treppe gebe ich den Versuch auf, die neuen Tränen zu unterdrücken.

Unschlüssig stehe ich im oberen Flur. Mein Blick springt zwischen meinem Zimmer und dem Bad hin und her, entscheidet sich schließlich jedoch für das Badezimmer. Ich wollte eh duschen gehen, aber dann kann ich gleich ein Bad nehmen.
„Ich bin baden!", rufe ich mit brüchiger Stimme nach unten. Sonst machen die sich gleich Sorgen, wenn ich etwas länger brauche. Wobei - Phil wird sich eh nur Sorgen um Tim machen. Was ist in ihn gefahren? Sonst verteidigt Phil mich immer und findet für alles Rechtfertigungen. So kenne ich ihn einfach nicht. Und das verletzt mich zusätzlich - als wäre die Sache mit Tim nicht schon genug.

Bevor ich mir frische Kleidung aus meinem Zimmer hole, möchte ich mir Wasser einlassen. Möchte.
Welcher Idiot auch immer dafür die Schuld trägt, dass die Fliesen vor der Badewanne nass sind, der hat jetzt den Salat.
Wie mein Glück mich eben mag, bemerke ich das Wasser erst, als ich darauf ausrutsche.
Badewannenrand gegen Hinterkopf - wer gewinnt wohl?

Sicht Phil

„Also ich verstehe Fine total. War halt ein Reflex", gibt Alex Fine recht, während er mich etwas verständnislos anguckt. „Das hätte jetzt wirklich nicht sein müssen", fügt er leiser hinzu.
Super, ich bin mal wieder der Vollidiot. Aber Tim ist eben so ein netter Junge gewesen, ich kann das einfach irgendwie nicht begreifen.
Seufzend setze ich mich neben Alex.
„Phil, du solltest dich bei ihr entschuldigen", sagt Anni, auch bei ihr ist der indirekte Vorwurf nicht zu überhören.
„Aber...", will ich mich wenigstens etwas verteidigen, doch Alex grätscht mir dazwischen. „Kein aber. Das ist das Mindeste."
„Ja, ihr habt ja recht", gebe ich zu und will ihr hinterher, doch da ruft sie schon, dass sie baden will. Dann eben nachher.
Irgendwer kann mich aber auch nicht sitzen sehen - ginge es nach Alex, ist es wahrscheinlich der Spiegel, der immer etwas für uns bereithält.
Ich sitze keine fünf Sekunden, da ist schon ein lauter Knall von oben zu hören.
„Ist was passiert?", rufe ich, nachdem wir drei uns kurz einen erschrockenen Blick zugeworfen haben.
Keine Antwort. Vielleicht hat sie mich nur nicht gehört.
„Ich gehe schnell gucken", sage ich und bin im nächsten Moment schon auf der Treppe.
Immer zwei Stufen zusammen nehmend, stehe ich schnell im Badezimmer - und erstarre.
„Scheiße", fluche ich. „Alex!"
Eine Welle an Schuldgefühlen überrollt mich. Hätte ich nichts zu dieser Ohrfeige gesagt, wäre sie womöglich nicht nach oben geflüchtet.

Mein normaler Ruhepuls verdoppelt sich gerade mindestens. Fine liegt mit geschlossenen Augen vor der Badewanne und auch mein durchaus sehr lauter Ruf nach Alex hat sie kein bisschen zucken lassen. Und das ist alles meine Schuld. Weil ich Tim in gewisser Weise verteidigt habe. Obwohl er hier der ist, der Fine verletzt hat. Und nun habe ich sie verletzt.
Ihre Atmung ist glücklicherweise kräftig, ebenso ihr Puls.
Alex bringt mit seiner Geschwindigkeit, mit der er ankommt, regelrecht einen Windstoß ins Badezimmer. Er muss gar nicht fragen, was los ist. Sofort wählt er den Notruf und rattert alles runter. Bevor er an meine Seite kommt, sagt er Anni noch Bescheid, dass sie den Rettungsdienst zu uns bringen soll.
„Hast du das Blut hier gesehen?"
Mein Blick löst sich von Fine und folgt Alex' Finger. Am Badewannenrand ist ein minimaler Blutfleck.
„Sie wird mit dem Kopf dort aufgeschlagen sein", stelle ich unnötigerweise fest.
„Ja ach", schnaubt Alex und kniet sich vor ihren Kopf, um ihre Halswirbelsäule zu stabilisieren.
Es braucht nicht viel Aufmerksamkeit, um zu merken, dass Alex mir Vorwürfe macht.
Aber das weiß ich schon selber, das muss mir keiner zeigen.
Ich setze Fine einen Schmerzreiz, auf den sie langsam reagiert.
„Fine, kannst du mich hören?", frage ich laut.
„Phil?", kommt leise zurück, es ist kaum mehr als ein Krächzen.
„Ja, ich bin da. Mach mal deine Augen richtig auf." Ich drücke ihre Hand sanft, um ihr zu zeigen, dass ich da bin.
Allmählich kann sie ihre Augen aufhalten.
„M-mein Kopf. Was ist passiert?"
Wirklich deutlich kann sie sich nicht ausdrücken.
„Du bist scheinbar ausgerutscht und mit deinem Kopf an der Badewanne aufgekommen", erklärt Alex.
„Was wollte ich denn hier? Im Badezimmer?"
Alex' Blick trifft meinen. Und wir haben genau den gleichen Gedanken.
„Du wolltest baden gehen", sage ich, weiß aber auch, dass das jetzt nichts bringt.
„Aha." Ihr Blick wirkt leer und eingetrübt.
„Der Rettungsdienst kommt gleich, dann wird dir geholfen." Ich streiche ihr über den Arm.
Sie guckt angestrengt an die Decke. Gut, bewegen kann sie ihren Kopf durch Alex eh nicht.
„Was ist denn überhaupt passiert?", fragt sie dann erneut.
Das kommt mir hier alles viel zu bekannt vor. Wie damals, als sie in der Halle gestürzt ist.
„Meine Augen brennen. Ist das normal?", hinterfragt sie ängstlich, nachdem sie keine Amtwort von uns bekommen hat.
Das kommt ziemlich sicher vom Weinen.
„Ja, das ist normal. Mach dir keine Sorgen."

Nach einem letzten Blickaustausch zwischen Alex und mir mache ich mich auf den Weg nach unten.
„Was ist denn bitte passiert?" Anni steht an der offenen Haustür und wartet auf den RTW.
„Hör zu. Sie ist augenscheinlich ausgerutscht und mit dem Kopf gegen den Wannenrand gekommen. Sie kann sich nicht mehr daran erinnern und fragt, wie damals in der Schule, jetzt immer wieder die gleichen Fragen. Ich befürchte, dass..."
„Dass sie sich nicht an vorhin mit Tim erinnern kann?", vervollständigt Anni mich hastig.
Ich nicke. „Ja, das befürchte ich. Es ist unklar, ab wann ihre Erinnerungen aussetzen. Das kann nur der Unfall sein, aber auch ein paar Stunden zurückliegen."
Sie reißt ihre Augen auf, bringt ihre Aufmerksamkeit jedoch wieder auf die Straße.
Die Sirenen sind immer lauter geworden und das NEF wird gerade abgestellt. Zu allem Übel ist es Paula, die aussteigt.
„Fine. Oben im Bad", sage ich kurz.
Paula zuckt zusammen. „Halte mir Franco vom Hals, danke." Dann ist sie weg. Einsatz im eigenen Haus, nicht schön.
„Wem ist was passiert?" Franco ist nicht mal bei uns angekommen, da fragt er schon. Auf seiner Schulter der Rucksack.
„Bleib jetzt bitte ruhig. Fine ist im Badezimmer ausgerutscht. Aber sie ist bei Bewusstsein, also keine Panik."
Keine Panik. Sage das einem Vater, der erfährt, dass seine Tochter auf Fliesen gestürzt ist.
Ich nehme ihm den Rucksack ab und bringe ihn nach oben, aber nicht, bevor ich Anni und ihn nicht ins Wohnzimmer geschickt habe. Franco war so in Schockstarre, dass das fast problemlos ging.
Jetzt müssen wir nur hoffen, dass Fines Erinnerungen schnell zurückkommen. Und die letzten Stunden nicht wegbleiben.  

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Wenn man die Kommentare unter dem letzten Kapitel nicht gelesen hat, ist das hier eine eher überraschende Wendung ;)
Vielen Dank an asdsfan für deine Anregung . Oder wie du es nennst: Flausen. Obwohl es in diesem Fall keineswegs welche waren :)

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)


7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Unde poveștirile trăiesc. Descoperă acum