116 - Die schlimmste Vermutung

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Alex' Sicht

„Was ist das denn für ein Affe? Der sieht und hört doch, dass wir mit Signal unterwegs sind!", flucht Franco laut, ehe er das Auto wieder in Bewegung setzt.
Hätte er nicht solch schnelle Reflexe gehabt, wäre das hier nicht so glimpflich ausgegangen.
„Das könnte eine schöne Prellmarke werden", flüstere ich und fahre mir über die Stelle, an der der Gurt sitzt.
„Jetzt bin ich wieder wach", murrt Franco.
Am Horizont wird schon das Altenheim sichtbar, zu dem wir gerufen wurden.
„Na immerhin etwas. Das wird jetzt auch höchste Zeit", gebe ich zurück und ziehe mir bereits Handschuhe an.
„Ich fresse einen Besen, wenn diese Rea nicht erfolgreich wird."
Ich schnaube. „Das will ich sehen. Die haben bestimmt einen da."

Franco sollte wohl verschont bleiben, denn die Rea war tatsächlich erfolgreich, womit keiner von uns gerechnet hat.
Beinahe beflügelt verlasse ich die Notaufnahme der Klinik und gehe auf das NEF zu, in dem Franco wartet.
„Jetzt bitte Kaffee. Das wird bestimmt eine Nacht vom Feinsten, das spüre ich." Er atmet tief durch.
„Das spürst du? Mach mir keine Angst, ich habe ein gutes Gefühl."
Franco zuckt mit den Schultern. „Werden wir sehen. Wetten wir?"
„Nein", nuschele ich zurück. Ich schließe sicherlich keine Wetten ab.

„Ich wollte doch Kaffee", jammert Franco und wendet bei der nächsten Gelegenheit.
Folgeeinsatz. Unklare Lage, wir lieben es.
„Phil und Paula sind schon lange zu Hause, obwohl beide parallel mit uns in der Klinik angefangen haben. Ist doch unfair." Das Gemaule von ihm geht jetzt wohl in die zweite Runde.
„Dazu sage ich jetzt einfach nichts mehr."
Die restliche Fahrt schweigen wir. Wir spekulieren nicht mal mehr darüber, was vorliegen könnte. Irgendwie verunsichert mich mein Bauchgefühl nun auch. Nicht, dass Franco vorhin mit seiner Vermutung recht hatte.

Die Sonne blendet uns ins Gesicht. Bald geht sie richtig unter.
„Hier in der Seitenstraße?", frage ich überracht, als er das Auto nach rechts steuert.
„Nee, da vorne nochmal links."
Ich muss stutzen. Diese Gegend hier ist äußerst gruselig.

Unsere Patientin sticht uns schnell ins Auge. Eine ältere Frau hängt halb aus einem Fenster im ersten Stockwerk eines Mehrfamilienhauses und winkt uns wild heran
„Die fällt da gleich raus und ist die nächste Patientin."
Franco spricht das aus, was mir gerade durch den Kopf ging.
Zum neunten Mal an diesem Tag ziehe ich mir Handschuhe über und steige aus dem Auto.
„Was ist passiert?", frage ich die ältere Dame, während ich mich zu dem Mädchen auf dem Boden knie und ihren Puls fühle. Der ist da und nicht auffällig. Schon mal gut.
„Ein junger Mann hat auf sie eingeschlagen und ist dann einfach weggerannt. Ich habe dann den Notruf gewählt", erklärt sie aufgebracht.
„Sie haben alles richtig gemacht, das ist sehr gut", rede ich beruhigend auf sie ein und drehe mich um. Der RTW lässt zu Wünschen übrig. Und die Polizei auch.
Auf den ersten Blick kann ich eine blutende Nase und ein blaues Auge sehen. Mir stockt fast der Atem, als ich ihren Arm sehe. Durch den Ärmel ihrer Strickjacke ist eine beträchtliche Menge Blut durchgesickert.
„Franco, ich brauch die Kleiderschere."
Er drückt mir sie nach einem kurzen Blickwechsel in die Hand. Wir denken beide an das Gleiche. Das Mädchen hier wird kaum älter als Fine sein.
„Hatte der ein Messer dabei?", frage ich an die Frau gewandt.
„Ich bin erst durch die Schreie aufmerksam geworden und so schnell nicht zum Fenster gekommen. Als ich da war, hat er gerade von ihr abgelassen, ich weiß es nicht."

Während Franco und ich vor uns hinarbeiten, der RTW noch immer nicht da, ebenso die Polizei, hören wir allmählich schwere Schritte, die näher kommen.
„Was kümmert ihr euch um die? Die hat das alles schon verdient!", brüllt jemand.
Ich hebe meinen Kopf, Franco dreht sich um.
Ein Schrank hat sich vor uns aufgebaut. Ich kann nicht sagen, wie alt der Typ ist. 19? 18?
Automatisch greift Franco zu seiner Funke, doch weiter kommt er erst gar nicht.
Meine Frage von vorhin hat sich von allein beantwortet. Er hatte ein Messer dabei. Er hat es immer noch dabei.

Josefines Sicht

Alle Gedanken drängen sich in den Vordergrund, schubsen sich gegenseitig weg, sodass ich gar nicht mehr weiß, wo vorne und hinten ist.
Es ist was passiert, aber was? Und wie schlimm muss das sein, dass ich nicht mal wahrgenommen werde?

Nachdem ich ein paar Minuten tatenlos auf der Couch saß und einfach nur an die Wand gestarrt habe, greife ich nach meinem Handy, um Toni anzurufen.
„Was ist?", fragt er ohne jegliche Emotionen in seiner Stimme.
„Ist irgendwas vorgefallen? Papa und Alex sind nicht zu Hause, Paula und Phil sind gerade halb geflüchtet, ohne mich zu bemerken. Ich komme gerade erst vom Training."
Toni macht ein undefinierbares Geräusch, im Hintergrund sind zwei männliche Stimmen zu hören. Es hört sich so an, als würde jemand Bierflaschen öffnen. Ach, der lässt es sich gerade wohl gut gehen. „War heute nach der Schule noch nicht zu Hause, ich habe keine Ahnung."
„Aber...", will ich beginnen, doch Toni fährt mir dazwischen.
„Du, mich hat gerade zweimal jemand angerufen. Gibt es noch was?"
„Nein", brumme ich und lege auf. Super Hilfe, danke.

Bei Paula und Phil geht keiner ran, bei Papa ebenso und Alex' Handy ist besetzt.
Kaum lege ich mein Handy verzweifelt auf den Tisch, bekomme ich eine Nachricht.
>Bin gleich da.<
Toni. Hat er sich in der Nummer geirrt?

Nervös laufe ich auf und ab. Dieses Gefühl von Unsicherheit will mich nicht verlassen. Ich meine, wie soll man sich denn sonst deren Verhalten erklären?
Eine Übelkeit bahnt sich an, die mich immer überrascht, wenn ich so in Unwissenheit bin.
Es gab vor ungefähr drei Jahren eine ähnliche Situation, in der alle zu einem sehr großen Unfall mussten und ewig nicht nach Hause gekommen sind. Da ist auch keiner an sein Handy gegangen und es war alles gut mit ihnen.
Aber jetzt ist es anders. Phil und Paula sind Hals über Kopf aus dem Haus gestürmt. Papa geht nicht ans Handy, bei Alex war besetzt.
Vielleicht jetzt nicht mehr.
Kurz bleibe ich vor der Terrassentür stehen, mein Blick fixiert den Mond, der sich im beinahe dunkelroten Himmel durch sein Leuchten abhebt. Meine Sicht verschwimmt. Nicht weinen. Ich weiß doch nicht mal, ob überhaupt etwas passiert ist.

Mit hämmerndem Herzen und einem Kloß im Hals mache ich zwei große Schritte auf den Wohnzimmertisch zu.
Alex muss jetzt an sein Handy gehen.
Zum Anrufen komme ich jedoch nicht mehr, denn davor wird die Haustür geöffnet.
So schnell stand ich noch nie im Flur wie jetzt.
Doch leider sehe ich kein Gesicht, mit dem ich gehofft habe.
Toni steht in der Tür, sein Gesicht blass, sein Atem schnell. Er muss gerannt sein, kann aber auch gar nicht so weit vom Haus entfernt gewesen sein.
„Zieh dich an, wir müssen in die Klinik." Seine Stimme versagt, wird von einem Kloß blockiert. Er schluckt, ehe er noch leise ein „Papa" ergänzt.

Meine schlimmste Vermutung, die ich krampfhaft verdrängen wollte, ist binnen weniger Sekunden wahr geworden.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)


7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Donde viven las historias. Descúbrelo ahora