71 - Alles findet sein Ende, auch die Nerven

4K 127 20
                                    

Sicht Alexander

„Ist sie...", flüstert Franco und schluckt.
Charlotte reißt ihre Augen auf. „Um Himmels willen, nein! Ihr könnt jetzt aber nicht zu ihr. Sie wird sofort in den OP gebracht."
Wie aufs Stichwort wird Fine von Frederik durch den Empfang in den Bereich nur für Mitarbeiter geschoben.
Dieser Anblick. Schrecklich.
„Ihre Rippen müssen gerichtet werden. Wir werden sie danach im künstlichen Koma lassen, damit sich ihre Lunge wieder erholen kann. Aber wir bekommen das hin. Frederik operiert, wie ihr gerade gesehen habt." Sie schenkt uns ein aufmunterndes Lächeln.
„Was ist das hier nur für eine Scheiße", murmelt Franco, erste Tränen überqueren seine Wangen. Er wischt sich die Tränen weg, doch sie stoppen nicht.
Charlotte verabschiedet sich von uns, da sie zum nächsten Patienten muss.
Regungslos bleibt Franco neben mir sitzen, hat es schon aufgegeben, etwas gegen seine Tränen zu unternehmen.
Vorsichtig nehme ich ihn in den Arm. „Sie schafft das. Sie ist stark", flüstere ich und bin selbst den Tränen verdammt nahe.

Nach vielem Reden hat Franco eingesehen, dass er nichts machen kann. Wir sind mit einem Taxi nach Hause gefahren.
Diese Stimmung ist unaushaltbar. Franco und ich sitzen nur auf der Couch. Die Stille zerreißt einen praktisch, aber etwas anderes würde man nun auch nicht ertragen. Meine Gedanken sind wirr wie ein Schneesturm.
Francos klingelndes Handy lässt uns nach einer Ewigkeit hochschrecken. Sofort springt er auf und hebt ab.
Nervös läuft er hin und her. Sein Gesicht verliert immer mehr Farbe und aus ihm kommt nicht mehr als Brummen oder tiefes Durchatmen. In mir wächst die Angst. Das klingt nicht gut. Gar nicht gut.
Die Dauer des Telefonats fühlt sich unendlich an. Und nachdem Franco auflegt, lässt er sich zurück auf die Couch fallen und schließt seine Augen.
„Sie wäre im OP einige Male fast abgeschmiert." Seine Stimme zittert und er muss eine kurze Pause einlegen.
Mein Bein wippt nervös, meine Hände sind schwitzig.
„Ihre Werte sind äußerst kritisch und kaum zu stabilisieren. Wahrscheinlich kommt dieser äußerst schreckliche Zustand durch ihre Mangelernährung, durch die ihr Körper generell schon geschwächt war. Und jetzt der Unfall. Nein, dieses Verbrechen."
Meine Ohren rauschen, mein Kopf schwirrt. Das ist alles meine Schuld. Hätte ich sie nicht allein gelassen, würde sie jetzt glücklich neben uns sitzen.
Ich springe auf. „Wegen mir! Wegen mir steht es um Fine so schlecht! Ich wollte das doch nicht!", schreie ich und renne hoch. Auf dem Flur rase ich in eine Person hinein, doch darauf achte ich nicht. Immer zwei Stufen zusammen nehmend, bin ich innerhalb weniger Sekunden oben und knalle meine Tür zu. Das Haus bebt dadurch kurz. So wie ich bebe.
Ich gucke mich hektisch in meinem Zimmer um. Würde am liebsten alles kurz und klein schlagen, um die Wut auf mich selbst entladen zu können.
Letzten Endes trifft meine Faust auf die bloße Wand. Einmal, zweimal, immer wieder. Bis sie blutet. Den Schmerz spüre ich nicht, mein Körper ist betäubt vom seelischen Schmerz.
Hätte ich sie nicht allein gelassen. Hätte ich. Jetzt ist es zu spät.
Entkräftet lasse ich mich in mein Bett fallen. Mein Zimmer dreht sich, das Rauschen in den Ohren nimmt zu. Ich verstehe meine eigenen Gedanken nicht mehr.

Sicht Phil

Völlig fertig mit den Nerven parke ich das Auto vor dem Haus.
„Guck mal, Toni kommt auch gerade. Ob er schon davon weiß?" Paula deutet vor unsere Haustür.
„Bestimmt noch nicht. Dann mal auf in den Kampf."
Die Arbeit hat Paula und mich ablenken können, doch jetzt werden wir vor die komplette Wahrheit dieser Situation gestellt. Und können nichts dagegen tun.
„Hey ihr zwei, was zieht ihr denn für Gesichter? Ist doch schönes Wetter", sagt Toni glücklich, während er die Tür aufschließt.
Ich schlucke. Er weiß es nicht. Und hat keinen blassen Schimmer.
Kaum ist die Tür offen, fliegt uns Geschrei entgegen. Zumindest der letzte Rest.
„Ich wollte das doch nicht!" Definitiv Alex.
Bei seiner Flucht nach oben rennt er Toni beinahe um. Gerade so kann Paula ihn noch halten.
„Was ist denn hier los?" Tonis Frage wird durch Alex' knallende Tür erschüttert.
Verwirrt geht er ins Wohnzimmer, bleibt jedoch abrupt stehen. Paula und ich hinter ihm auch.
„Papa? Was ist passiert?", fragt er und setzt sich sofort neben Franco. Er sitzt auf der Couch, schluchzt und wirkt, als würde er kaum noch Luft bekommen.
Ich wechsle mit Paula einen kurzen Blick, ehe wir uns dazu setzen.
Bis Franco sich einigermaßen beruhigt hat, dauert es eine Zeit. Doch dann erzählt er Toni das, was Paula und ich schon wissen. Danach kommen die neuesten Infos über den Zustand nach der OP und Alex' Selbstvorwürfen. Und diese rauben mir fast die Luft zum Atmen.
Toni wird blass, Paula ebenfalls.
Ich atme tief durch, probiere, einen klaren Kopf zu bewahren. Mach das mal in solch einer Situation.
„Alex hat keine Schuld, wer hätte das denn ahnen können. Ich gehe mal nach ihm gucken." Vorsichtig erhebe ich mich und gehe nach oben.
Auf das Klopfen reagiert Alex nicht, also öffne ich die Tür einfach so.
Er liegt in seinem Bett, sein Gesicht von Tränen überlaufen. Blut tropft langsam auf den Boden. Es kommt von der linken Hand, die aus dem Bett hängt. Sie ist komplett aufgeplatzt.
Seine Augen sind geschlossen, also rüttele ich sanft an seiner Schulter. Sofort schreckt er hoch.
„Was hast du denn an deiner Hand gemacht?", frage ich leise.
„Meine Wut auf mich selbst rausgelassen", knirscht er und ballt seine Hände zu Fäusten. An seinem Hals kommen die Adern deutlich zum Vorschein.
„Hey, komm mal runter. Du kannst nichts dafür. Keiner gibt dir die Schuld. Fine schafft das, sie ist stark." Ich stehe wieder auf. „Komm, ich verbinde dir deine Hand."
Ich ziehe ihn hoch und gehe mit ihm ins Büro.

Josefines Zustand blieb die Nacht über sehr kritisch. Die Werte haben sich auch in den nächsten Tagen nur schleppend, eigentlich kaum verbessert. Man merkt, wie ihr Körper zu kämpfen hat, nicht zuletzt durch ihre längere Mangelernährung.
Unsere Gespräche zu Hause haben sich nur auf das Nötigste begrenzt, gegessen wurde kaum. Das wäre fast zum Lachen, predigen wir Josefine doch immer, sie solle ordentlich essen. Alex hat sich durch seinen Wutausbruch seine Hand erfolgreich gebrochen. Franco wurde vom Dienst befreit und war mit Alex, der wegen seiner Hand krankgeschrieben wurde, immer bei Fine, wie es eben möglich war. Paula und ich waren ebenfalls vor oder nach dem Dienst bei ihr.

Fünf Tage nach diesem Unfall liefere ich, wie so oft an einem Tag, einen Patienten in der Klinik ab.
Mit Flo stehe ich am Empfang und rede kurz mit Gisela, als plötzlich mein Name gerufen wird. Ich drehe mich um und sehe Chatlotte, wie sie aufgeregt auf mich zurennt. Vor mir legt sie eine schlitternde Vollbremsung ab.
„Was ist denn jetzt los?", frage ich irritiert. Ihre Mundwinkel zucken.
„Fine...ihre Werte", sagt sie ganz außer Atem.
„Sind sie wieder schlechter geworden?" Große Unsicherheit schwingt in meiner Stimme mit.
Ohne Zögern schüttelt sie den Kopf.
„Im Gegenteil, sie sind über Nacht unerwartet und wie durch ein Wunder so gut geworden, dass wir sie morgen aus dem Koma holen können!"
Eine enorme Last fällt von mir ab, die sich die letzten Tage immer schwerer gemacht hat. Ich fühle mich augenblicklich so leicht, dass meine Beine ganz weich werden und ich mich am Tresen festhalten muss.
Sie hat überlebt.

-----------

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Nơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ