88 - Böser Zufall

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„Was ist denn hier los?", ertönt Alex' Stimme gedämpft.
Die Luft wird unter der Decke langsam knapp, aber ich will nicht hervorkommen. Es ist, als könnte mich die Decke vor der Realität schützen. Und dieser kleine Gedanke scheint mich gerade vor dem Ertrinken zu retten.
„Ihre Erinnerungen sind zurück", erklärt Anni. „Und jetzt liegt sie seit zehn Minuten so da. Sie kann doch schon längst keine Luft mehr bekommen."
„Hey, Fine, ich bins. Komm mal vor." Alex rüttelt sanft an meiner Schulter, aber ich denke nicht dran. Ich wische mir mit der Hand vergeblich meine Tränen weg.
Alex lässt nicht lang mit sich reden, denn schon zieht er mit einem Ruck die Decke weg. Ein frischer Windzug überkommt mich, was eine Wohltat ist. Jedoch fliegt mir damit auch die Realtität wieder zu.
Alex setzt sich zu mir. „Liebeskummer ist nicht schön. Und dann ist es auch noch dein erster. Aber glaub mir, du wirst es schneller verkraften, als du jetzt denkst."
Er wischt mir eine Träne weg, die noch einsam meine Wange überqueren wollte.
„Was machst du hier?", lenke ich vom Thema, richte mich richtig auf und gucke an Alex runter. Seine Einsatzkleidung leuchtet mir nur so entgegen. 
„Habe hier gerade jemanden abgeliefert und wollte dann nach dir gucken. Die Nachricht von der Nacht macht sogar auf der Wache eine Runde. Du bist aber relativ unbeschadet davongekommen? Hat Phil zumindest gesagt."
„Mehr oder weniger. Die beiden Schnitte am Hals sind zum Glück nur oberflächlich. Aber ich rede ungern darüber."
„Verstehe ich."

Er guckt mich nachdenklich an. Anni hat sich an den Tisch gesetzt und isst gedankenverloren ihre Chips weiter. 
„Alex? Was ist jetzt eigentlich mit Alicia und dir?" Erwartungsvoll liegt meine volle Aufmerksamkeit auf ihm. Ich möchte einfach mal wieder schöne Dinge hören.
„Du, ich möchte jetzt nicht so davon reden. Du hast gerade erst eine Trennung hinter dir", druckst er herum und kratzt sich am Kopf.
Ich nicke wissend. „Verstehe schon. Alex und Alicia, das neue Traumpaar. Du redest kaum von ihr, obwohl ihr euch in den letzten Wochen schon häufig getroffen habt."
„Ja ... Also na ja ... Ich weiß doch auch nicht wirklich", hadert er vor sich hin.
„Klingt ja nicht so überzeugt."
„Ich brauche noch Zeit. Aber wir verstehen uns super, sagen wir es so", zieht er einen Entschluss, mit dem ich mich eher widerwillig zufriedengebe. 
Annis Chipstüte knistert, als sie sie zusammenknüllt.
Sie bemerkt meinen Blick. „Was? Ich hatte nun mal Hunger", verteidigt sie sich schulterzuckend und wirft die Tüte in den Müll.
Sie muss doch jetzt Durst haben. Apropos Durst, den habe ich auch.
Nach meiner erfolglosen Verrenkung in Richtung des Wassers steht Alex auf, um mir etwas ins Glas zu schütten und es mir dann zu geben. Danach nimmt er wieder auf meinem Bett Platz.
„Wo hast du denn deine Kollegen gelassen? Und musst du nicht langsam mal wieder los?"
„Den RTW kannte ich nicht und Flo hat hier irgendeine Krankenschwester, die ihm gefällt. Da ist er gleich mit ihr in die Pause verschwunden. Spätestens wenn der Melder geht, muss ich los."
„Aha, Flo also."
Ich setze das Glas an und trinke, während die Tür aufgeht.
„Fine, du bekommst eine Nachbarin", sagt Schwester Louisa schon, bevor ich überhaupt jemanden sehen kann.
Gespannt nehme ich das Glas runter, nachdem ich noch einen großzügigen Schluck genommen habe.
Zum Schlucken komme ich jedoch nicht mehr, denn das Wasser landet mit dem Blick auf meine Zimmergenossin direkt in Alex' Gesicht.
Ich beginne zu husten, ein bisschen ist doch noch nach hinten gegangen. Aber in die falsche Röhre.
Sofort klopft mir Alex auf den Rücken. „Geht's?"
Ich nicke, schüttele den Kopf, nicke wieder. Ja. Aber nein, nichts ist in Ordnung.
„Äh, das nenne ich mal eine Begrüßung. Alex, ich hole dir Tücher." Louisa zieht noch schnell die Plane vom Bett und verschwindet dann.
„Danke für die nette Dusche. Aber wieso?" Alex guckt mich an, dann wandert sein Blick zu dem neuen Mädchen.
„Herr Hetkamp, so schnell sieht man sich wieder." Alex wird angegrinst.
Ich könnte mich jetzt hier in hohem Bogen übergeben.
Er lächelt sie an und macht eine begrüßende Handbewegung.
„Zufälle gibt es, was?" Jetzt gilt mir ihr Grinsen.
„Halt bloß deinen hübschen Mund. Ich werde mit dir kein Wort wechseln, welches nicht lebensnotwendig ist", knirsche ich und wende mich zu Anni, deren Augen sich schon zu Schlitzen verengt haben.
„Mädels? Ihr kennt euch?" Alex steht gewaltig auf dem Schlauch, aber ist ja auch klar, er kann sie gar nicht kennen.
„Was ist denn los?", fragt Mia scheinheilig.
Ich lache ironisch auf. „Du bist so witzig. Alex, ich möchte in ein anderes Zimmer."
Überfordert guckt er mich an. Bevor er darauf reagieren kann, kommt Louisa angeeilt und gibt ihm die Papiertücher, mit denen er sich sein Gesicht abwischt.
„Ich habe das nicht in der Hand. Es wird nicht anders gehen, wenn sie jetzt hier ist. Aber kannst du mich mal aufklären?"
„Dann will ich nach Hause."
„Was ist los?", will auch Louisa wissen.
Mia sitzt einfach da, guckt mich an und scheint wirklich nicht zu wissen, was ich habe.
„Was los ist? Alex, darf ich dir Mia vorstellen? Ach, die hast du ja anscheinend gerade hier eingeliefert. Aber ich kann dir auch sagen, dass das die Mia ist. Genau die."
Alex steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, trotz seiner Bemühungen das zu vertuschen. „Oh, das wusste ich nicht." 
„Josefine? Was hast du?", fragt Mia nun noch mal.
Ich funkele sie wütend an, kann mich aber nicht überwinden, mit ihr zu reden, weswegen ich wieder zu Alex gucke, der mich bedrückt anschaut.
„Alex, wenn ich sie noch länger sehe, kann ich nichts garantieren." Und zum erneuten Mal sammeln sich Tränen in meinen Augen.
„Warte kurz." Alex steht auf und verlässt das Zimmer.
„Du ... hast uns gesehen?", hakt Mia da vorsichtig nach.
Ich schnaube. Muss mich beherrschen. „Ja. Hat es wenigstens Spaß gemacht?"
Sie schluckt und wendet ihren Blick der Wand zu. Besser so.
Lousia steht verwirrt vor unseren Betten.
„Sie sind übrigens nicht mehr zusammen. Du hast es geschafft", gibt nun auch Anni einen Kommentar ab.
„Das war nicht mein Ziel. Es war ein Versehen", murmelt Mia und knetet ihre Hände.
Pff. Versehen. Wenn meine Hand in ihrem Gesicht landet, ist es auch nur ein Versehen.

Alex kommt mit einer Ärztin im Schlepptau wieder. Ich gucke nicht schlecht, als ich sehe, dass es sich um Paula handelt. Auf der Kinderstation?
„Guck nicht so. Ich hätte heute frei gehabt, aber hier ist Not am Mann. Also was liegt dir auf dem Herzen?"
„Wann kann ich nach Hause? Heute?"
„Also nach deinem Zustand gestern solltest du schon noch bis morgen bleiben, das weißt du", sagt sie etwas entschuldigend. 
„Ich möchte aber raus. Ich habe euch doch. Außerdem sind meine Erinnerungen wieder da", kontere ich. Ich habe beschlossen, dass ich dieses Krankenhaus heute noch verlassen werde. Koste es, was es wolle. 
„Fine, du weißt...", setzt Paula an.
„Paula. Entweder holt mich Papa jetzt ab und ich kann nach Hause, oder ich gehe nachher eigenständig. Glaub mir, ich sage das nicht nur so. Meine Erinnerungen sind mit voller Wucht eingebrochen und meine neue Nachbarin macht das nicht besser!" Ich wurde immer lauter, was Paula erschrocken zucken lässt.
„Na schön. Aber du sagst uns sofort, wenn etwas ist. Und heute Abend erklärst du mir das mal. Ich rufe Franco an."
„Danke." Ich schiele zu Mia rüber, die schuldbewusst auf ihre Hände guckt. Sie kann sich ruhig schlecht fühlen.

Am Abend, nachdem ich allen ausführlich erklärt habe, was ich wieder weiß und wer diese tolle Mia war, liege ich schon früh im Bett. Meine Gedanken sind mal wieder ein einziger Kabelsalat, der mich zum Verzweifeln bringt. 
Ich freue mich einfach nur noch auf Donnerstag, wo wir für drei Wochen nach Italien fliegen. Und diesmal wirklich.
Und mit der Hoffnung, dass mir dieser Spiegel wenigstens mal diese drei Wochen kein Bein stellt, schlafe ich ein.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)


7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now