51 - Ausraster am Esstisch

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„Tu mir einen Gefallen und sei nicht sauer auf Anni, sie hat richtig gehandelt." Er guckt mir eindringlich in die Augen und löst seinen Blick erst, als ich nicke. „Super." Alex nimmt meine Hand hoch. Noch mehr Blut als zuvor, Jackpot.
Behutsam wickelt er den Verband ab. „Du hast auch wirklich immer Pech. Die Naht ist aufgegangen, das kann wieder zugemacht werden."
„Nee, ne? Nicht dein Ernst."
„Doch, leider. Du wirst bei deiner ersten Hilfe gerade eine unbewusste Bewegung gemacht haben, die dafür verantwortlich war. Bleib stehen, ich hole deine Sachen und dann kommst du mit." Ohne auf meine Reaktion zu warten, öffnet er die Tür wieder und geht auf Frau Schmidt zu, um das mit ihr zu klären. Mein Blick sucht Annis, und als auch sie mich anguckt, lächle ich sie schüchtern an. Ich bin erleichtert, dass sie es erwidert.

Nachdem Alex auch meine Tasche geholt hat, verlassen wir zusammen die Schule. „Was ist mit Valery?", frage ich. Immerhin hat er gerade Zeit für mich.
„Sie ist stabil und neurologisch nicht auffällig. Du fährst mit Franco in die Klinik, ich begleite Valery."
Am NEF guckt Papa ziemlich erschrocken, als er mich sieht. Wusste er nicht, dass ich komme? Und wenn Alex jetzt noch erzählt, dass ich vorhin verweigert habe, wird Papa wieder ein Fass aufmachen.
„Wir haben uns schon gewundert, wo du plötzlich warst", sagt Papa zu Alex.
„Fine hat mich auf dem Weg zum Sekretariat abgefangen und mir ihre Hand gezeigt. Ihr ist im Raum das Blut aufgefallen und dann wollte sie jemanden von uns suchen. Ich war wohl der Erste. Die Naht ist wieder aufgegangen, nimmst du sie mit?"
Wow, jetzt bin ich ziemlich verwirrt. Alex hat gerade ernsthaft für mich gelogen, damit ich mir nichts von Papa anhören muss?
„Das ist doch keine Frage", erwidert Papa. Alex drückt ihm meinen Rucksack in die Hand, zwinkert mir zu und verschwindet in den RTW. Und ich bin ihm unendlich dankbar.

Wir kommen gleichzeitig mit dem RTW an und betreten gemeinsam die Notaufnahme, wo Paula bereits am Empfang steht. „Phil? Du hast Arbeit!", ruft Paula nach hinten in den Behandlungstrakt. Laut Wartebereich ist hier gerade wirklich keine Arbeit angesagt.
Paula wendet sich an Alex, und sie verschwinden mit Valery nach hinten in den Schockraum.
Phil kommt derweil zu Papa und mir. „Hast du mal wieder toll gemacht, Fine. Ich bin stolz auf dich."
„Du kannst wirklich stolz auf sie sein. Sie hat dem Mädchen erste Hilfe geleistet. Und das richtig gut. Dabei wird das passiert sein", entgegnet Papa mit ziemlichem Stolz in der Stimme. „Außerdem hat sie sich diesmal sogar von allein gemeldet und es nicht verschwiegen", ergänzt er.
Ich verschlucke mich vor Schreck an meiner eigenen Spucke und huste erstmal eine Weile. Immerhin können sie dann nicht sehen, dass Papas letzte Aussage mir die Röte ins Gesicht getrieben hat. Das schlechte Gewissen keimt in mir auf, doch sagen werde ich nichts. Dann verrate ich nicht nur mich, sondern hauptsächlich Alex.
„Na komm, wir beheben das mal wieder." Phil legt mir eine Hand in den Rücken und geht mit mir zum Behandlungsraum. Alex und Jacky kommen uns schon entgegen und verlassen mit Papa zusammen die Klinik.

Phil holt sich keine Schwester zur Seite, mit der Begründung er wäre dann länger beschäftigt.
Es ist kurz still zwischen uns, erst beim Reinigen der Wunde beginnt er, mit mir zu reden.
„Du hast diesmal also von allein etwas wegen deiner Hand gesagt?" Er hebt seinen Kopf und ich kann etwas Belustigung in seinem Gesicht sehen.
In meinem Gehirn arbeitet es, doch mir fällt keine passende Antwort ein. Weder lügen noch die Wahrheit sagen will ich, geht nur leider nicht.
„Schon gut, ich verrate dich nicht bei Franco. Aber wie ist es dann dazu gekommen, dass du jetzt schon hier bist?"
Ich atme erleichtert aus und erzähle ihm dann einfach von Anfang an alles, was mit dem Unfall zu tun hat. So merke ich gar nicht wirklich, wie er nebenbei meine Hand betäubt und erneut näht. Und alles nur der Aufregung geschuldet, die in mir aufkommt, wenn ich an die unfähigen Schüler denke.

Mir wurden zwei Varianten von Phil zur Auswahl gestellt. Entweder warte ich auf seinen Dienstschluss und komme mit ihm und Paula mit. Dafür muss ich aber auch mit eine Spülmaschine kaufen gehen. Die zweite Lösung wäre gewesen, dass er mir Geld für eine Fahrkarte und seinen Haustürschlüssel gegeben hätte, damit ich mit dem Bus nach Hause fahren kann. Mein Rucksack liegt im NEF, den haben wir ernsthaft vergessen. Da liegt er gut.
Auf Bus hatte ich aber so gar keine Lust, und Phil wäre das, wie soll es anders sein, auch nicht so lieb gewesen, also sitze ich im Aufenthaltsraum und drehe Däumchen. Das ist mir das Eis wert, welches beim Einkaufen später noch auf mich wartet.
Ab und an kommen Paula und Phil vorbei, wenn sie keine Patienten haben. Hier bleibt es heute aber auch wirklich ruhig.

Zu Hause kommt uns schon der Geruch des heutigen Abendessens entgegen. Das mit der Spülmaschine hat doch ganz schön lang gedauert.
„Ihr könnt gleich essen kommen!", ruft Alex da auch schon aus der Küche.
Am Tisch sitzen bereits Papa und Toni, die in eine angeregte Diskussion vertieft sind. Alex stellt derweil einen Topf auf den Tisch und Paula, Phil und ich waschen uns noch die Hände.
Alex denkt an meine Hand und macht mir gleich etwas auf den Teller.
„Mann bist du vorausschauend", staune ich und grinse ihn an.
„Verarschen kann ich mich selber." Er streckt mir die Zunge raus und setzt sich neben mich.
Still beginnen wir mit dem Essen. Chili Con Carne mit Brötchen, ich liebe es. Auch wenn es schnell sehr scharf wird, da hilft das Brötchen gut.
„Fine, kannst du noch mal das von heute in der Schule erzählen? Ich hatte ja nur Valery, aber sie konnte mir nicht viel sagen", beginnt Paula ein Gespräch.
Bereitwillig fange ich an, erneut alles bis ins kleinste Detail zu erzählen, was meinem Gemütszustand jedoch nicht ganz so bekommt. Schon immer habe ich die Kidneybohnen nicht gemocht und sie kleckerweise Alex auf seinen Teller gelegt, doch je mehr ich erzähle, desto aggressiver landen die Bohnen bei Alex. Außerdem ist meine linke Hand nicht ganz so zielsicher und trifft den Teller manchmal nur knapp.
Irgendwann greift er nach meiner Hand. „Beruhige dich. Was ist denn bei dir los? Gleich schleuderst du mir die Dinger noch ins Gesicht, wenn ein bisschen mehr Schmackes dazukommt. Und da bist du kurz davor."
Ich lasse meinen Löffel auf den Tisch sinken und starre auf meinen Teller. „Mich macht es so traurig und gleichzeitig aggressiv, wie wenig Ahnung die Schüler anscheinend von erster Hilfe haben. Paula, Phil, ihr hättet die mal sehen müssen. Dumm im Weg stehen, das können die." Ich habe mich richtig in Rage geredet. „Aber helfen? Nein. Nicht mal einen Lehrer holen, selbst daran verschwenden sie anscheinend keinen Gedanken. Ich glaube nicht, dass sie sich an Valerys Leid ergötzt haben. Nein, ich habe in allen Gesichtern pure Überforderung mit dieser Situation gesehen. Sie werden von keinem darauf vorbereitet. Sie wussten nicht, wie sie handeln können. Hatten vielleicht Angst, Schaden anzurichten. Sie waren teilweise richtig in Schockstarre und sind nur durch Alex' Geschrei wieder richtig zu sich gekommen. Das kann doch einfach nicht sein!"
Erschrockene Gesichter gucken mir entgegen. Es ist still. Richtig still. Erst jetzt merke ich, dass meine Stimme anscheinend immer lauter wurde.
Besänftigend legt Alex eine Hand auf meine. „Ich verstehe dich."
„Ich denke, wir alle hier verstehen dich", sagt Phil. Dann tauschen sie alle einen Blick, dem ich leider nicht folgen kann, denn auch Toni gibt einen Kommentar von sich.
„Ich habe davon heute gar nichts mitbekommen. Darüber hat auch irgendwie keiner geredet."
„Du bewegst dich ja gefühlt auch nie aus deinen Räumen raus", äußere ich eine Feststellung.
„Stimmt gar nicht", gibt er zurück.
Ich zucke mit den Schultern. Keine Lust auf eine Diskussion. Mir liegt dieser Vorfall richtig quer im Magen, der Appetit ist mir vergangen.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now