81 - Wie im freien Fall

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Gierig saugt meine Lunge die frische Luft auf. Die Sommernacht ist unerwartet kühl. Oder mir wäre gerade einfach nur überall kühl.
„Was für ein Arsch. Ich könnte ihm an die Gurgel springen! Was fällt dem ein? Ich dachte, er wäre der netteste Typ überhaupt! Und dann hat er dich gerade nicht mal bemerkt!", redet, nein, schreit sich Anni in Rage. „Ich würde dem jetzt so gern eine verpassen."
„Und was ist mit Mia? Die haben beide was damit zu tun", gebe ich trocken zu bedenken.
„Die bekommt gleich eine dazu. Die weiß doch, dass ihr ein Paar seid! Aargh!" Anni tigert hin und her, im Gegensatz zu mir. Ich stehe einfach da und starre ins nichts.
„Waren. Dass wir ein Paar waren", berichtige ich. Meine Stimme klingt so emotionslos wie ein Stein.
Abrupt bleibt sie stehen und guckt mich an. „Du machst Schluss?"
„Nee, weißt du? Ich akzeptiere, dass er eine andere küsst, wenn wir einen Abend mal nicht zusammen sind."
„Und was ist, wenn er nur betrunken ist? Wenn er das gar nicht wissentlich tut?"
Ich schnaube. „Dann soll er eben nicht so viel trinken. Das ist ein Vertrauensbruch."
Sie legt ihren Kopf schief. „Wieso klingst du so, als wäre dir das egal?"
„Ich spüre gerade nichts. Außer, dass mir verdammt kalt ist. Wo bleibt Phil?"
Ungläubig schüttelt Anni den Kopf. „Mit dir ist alles gut?"
„Klar, mir ging es nie besser", sage ich in einem ironischen Tonfall. „Ich weiß doch auch nicht, was gerade mit mir ist. Die Gefühle werden noch früh genug über mir zusammenbrechen. Es ist, als wäre ich noch im freien Fall. Zwar von der Wolke gefallen, aber noch nicht aufgekommen."
Dann umhüllt uns ein Schweigen. Anni hat ihr Getigere wieder aufgenommen und murmelt immer wieder irgendwelche Beleidigungen, die Tim gelten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit fährt Phil vor. Die Autotür knalle ich doller zu, als eigentlich nötig.
Er dreht sich zu uns um, anstatt weiterzufahren.
„Was ist los? Es ist gerade erst kurz nach elf gewesen, als du geschrieben hast."
Ich zucke mit den Schultern.
„Tim ist das mieseste Arschloch überhaupt! Der Typ knutscht eine andere, wenn Fine einen Abend nicht bei ihm ist! Das gibt es doch nicht!", platzt es aus Anni. Irgendwie ist sie gerade wütender als ich. Vielleicht, weil ich es nicht begreifen kann, begreifen will.
Phil wird blass, er schluckt hörbar. „Geht es dir gut?", hinterfragt nun auch er vorsichtig.
„Klar. Wieso fragt ihr denn? Denkt ihr, ich fühle mich jetzt super toll? Mir ging es nie besser." Mein Kopf knallt gegen die Fensterscheibe. Autsch, das sollte sanfter werden.
Mit einem tiefen Durchatmen schließe ich meine Augen. „Fahr bitte, ich möchte einfach nach Hause."

Es entsteht eine Unterhaltung zwischen Phil und Anni, an der ich mich nicht beteilige. Eigentlich will ich gerade einfach nur meine Ruhe.
„Kommst du mit zu uns? Oder soll ich dich nach Hause bringen?"
„Ich komme mit zu euch, keine Frage. Sie braucht mich jetzt", sagt Anni ohne Zögern.
Meine Mundwinkel heben sich minimal. Auf Anni ist immer Verlass.
„Und mit wem war das jetzt? Kennt ihr die?", will Phil als nächstes wissen.
Meine Mundwinkel sacken um das Doppelte wieder ab.
„Mia. Sie ist in unserer Parallelklasse. Wir kennen sie nur flüchtig." Anni redet leise und hat sich zu Phil nach vorn gebeugt. Trotzdem habe ich das verstanden.
Mia. Mir kommt die Galle hoch.

Gefühlte Ewigkeiten später parkt Phil vor dem Haus. Die Autotür bekommt wieder etwas viel Druck von mir. Passiert. Selbst Phil sagt dazu nichts, auch wenn er eigentlich der Erste ist, der sich darüber beschwert.
Im Haus laufe ich sofort in die Küche. Papa und Paula sitzen auf der Couch, aber ich beachte sie nicht. Nicht jetzt.
Ich reiße die Schublade auf, wo immer unsere Süßigkeiten sind. Keine Gummibärchen. „Haben wir keine Gummibärchen mehr?", frage ich angepisst ins Wohnzimmer.
„Du hast ewig keine Süßigkeiten mehr gegessen. Deswegen haben wir keine mehr gekauft", kommt von Papa vorsichtig die Antwort.
„Schön. Dann nicht." Ich greife zu einer Tüte Paprikachips. Wahlweise könnte ich auch Schokolade nehmen. Aber nein, die erinnert mich an ... Tim.
Ich reiße die Tüte auf und stopfe mir eine ganze Hand Chips in den Mund. Einzelne Brösel fallen auf den Boden, aber das ist mir egal.
Mit der Tüte gehe ich ins Wohnzimmer. Anni und Phil haben sich bereits zu den anderen gesetzt.
Sie gucken mich besorgt an.
„Alles gut?"
Papa, falsche Frage. „Zum dritten Mal heute. Natürlich ist alles gut mit mir, was soll sein?" Die nächsten Chips landen in meinem Mund, ich spreche weiter. „Ich freue mich für Tim. Klar, endlich muss er nicht mehr mich küssen. War bestimmt schrecklich für ihn. Herrlich, welchen Spaß er gerade haben muss." Ich spucke beim Reden Krümel, lache herzlich auf und stopfe mir die nächsten Chips rein.
Hilfe, ich drehe durch.
„Fine, komm, wir gehen ins Bett. Du fängst an, verrückt zu werden." Anni steht auf und kommt um den Tisch zu mir.
Paula und Papa scheinen sprachlos zu sein. Sie starren mich nur mit offenem Mund an.
„Möchtest du auch welche?", biete ich Anni die Tüte an.
„Nein, aber danke."
Ich zucke mit den Schultern. „Mh, bleibt mehr für mich."
Ich lecke mir die Gewürze und das Fett von den Lippen. Fett. Der Grund, weshalb ich Chips seit diesem einen Gespräch zwischen Alex und Phil nicht mehr gegessen habe.
Fett. Wen juckt's? Mich nicht.
Chips, ich brauche noch mehr Chips. Während Anni mich nach oben zerrt, schiebe ich mir die nächsten Chips in den Mund. Dabei verfehlen einige ihr Ziel und landen auf der Treppe. Egal. Mir ist gerade alles egal.
„Du wirkst, als hättest du was getrunken."
„Ich habe Limo getrunken. Bin an den Zucker nicht mehr gewöhnt", grinse ich.
„Schluck mal ordentlich runter, du hast überall Krümel."

Im Bad nimmt mir Anni meine Chipstüte weg.
„He, was soll das?" Ich will wieder nach ihr greifen, doch Anni hat sie schon an eine Stelle gepackt, an die ich nicht komme.
„Wir putzen jetzt Zähne, schminken uns ab und gehen schlafen. Hast du eine Zahnbürste für mich?"
Maulend gehe ich an einen Schrank, aus der ich ihr eine frische Zahnbürste gebe. Sie hatte mal ihre eigene hier, weil sie so oft bei uns geschlafen hat. Aber seit Tim... Bah, Tim. Nein, an den verschwende ich jetzt keinen Gedanken.

Sie übernimmt das Abschminken bei mir, dann ziehen wir uns um. Völlig fertig lasse ich mich ins Bett fallen.
„Was kommt zuerst. Wut oder Traurigkeit?", frage ich in die Stille.
„Wenn du ihn siehst, kommt zuerst Wut. Ist er dann gegangen, wird die Wut durch Traurigkeit ersetzt." 
Ich ziehe eine Augenbraue hoch, was Anni gar nicht sehen kann. „Woher weißt du das?"
„Kann ich mir vorstellen, sicher bin ich mir nicht. Aber ich bin mir sicher, dass ich jede Phase mit dir durchgehen werde."
Ungewollt entkommt mir ein Lächeln. Mir ist eigentlich gar nicht danach. „Danke", flüstere ich.
„Dafür sind beste Freundinnen da."

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now