70 - Todesangst

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„Punktieren, sofort. Und einen Notarzt nachfordern", kommandiert Alex und drückt mich auf den Boden.
Ich schnappe immer panischer nach Luft, doch es kommt kaum etwas an.
„Wer sind Sie überhaupt?", höre ich die Sanitäterin fragen, während ich ein Kramen vernehme. Wahrscheinlich wird alles zusammengesucht.
„Notarzt. Ich weiß, was ich sage. Fine, gleich geht es besser."
„Alex...ich...sterbe...", wimmere ich. Ich habe Todesangst. „Mach...was."
„Ich lasse dich nicht sterben. Dir geht es gleich besser, alles wird gut." Er streicht mir über den Kopf.
Mir wird mein Oberteil aufgeschnitten. Mein Blick ist permanent auf Alex gerichtet. Er strahlt eine schöne Ruhe aus, auch wenn es gerade eine äußerst brenzlige Situation ist.
Doch sein Gesicht verzieht sich plötzlich zu einem verwirrten Gesichtsausdruck. Ich folge seinem Blick. Die beiden Sanis gucken sich etwas nervös an.
„Was ist? Noch nie gemacht?", fragt Alex, ist um Ruhe bewahrt, doch man hört deutlich, dass er ziemlich gereizt ist und Wut in ihm aufsteigt. Er hat selbst extreme Angst um mich.
Beide Sanis schütteln ihren Kopf. Ich lasse meinen wieder sinken. Scheiße.
Die Decke dreht sich, die Luft wird noch knapper, auch wenn das kaum noch möglich ist. In meinem Brustkorb sind schmerzen, die ich in  solch einer Stärke noch nie verspürt habe. Schwarze Flecken tauchen vor meinen Augen auf, die ich krampfhaft probiere, wegzublinzeln.
„Ich brauche Handschuhe. Ich mache das, aber wenn jemand fragt, ich war das nicht."
Ich gucke Alex mit großen Augen an. Natürlich fühle ich mich wohler, wenn er das macht, aber er ist nicht im Dienst.
Wortlos wird ihm alles gereicht, in Lichtgeschwindigkeit hat er seine Handschuhe angezogen und mich an der Stelle zwischen den Rippen desinfiziert.
„Es wird jetzt kurz ekelig, aber danach geht es dir sofort besser, okay?"
„Mach...bitte", flüstere ich und schließe die Augen. Mit meinem Leben habe ich praktisch schon abgeschlossen.

Ich bekomme kaum etwas davon mit, was Alex da macht. Das Zischen höre ich trotzdem und auch das erleichterte Ausatmen von Alex.
Binnen Sekunden klappt das mit dem Luftholen besser, dennoch verschwinden die schwarzen Flecken nicht. Ebenso mein Schwindel.
„Wird's?", fragt Alex.
„Ich...weiß nicht", hauche ich.

Sicht Alexander

„Ich...weiß nicht", kommt noch schwach über Fines Lippen. Dann kippt ihr Kopf kraftlos zur Seite.
Mein Blick fällt auf das Pulsoxi. Ihre Sättigung ist miserabel und steigt im Schneckentempo. Es hilft nichts, wir müssen intubieren.
In diesem Moment sehe ich, wie der Notarzt angerannt kommt. Mir fällt ein kleiner Stein vom Herzen, denn es handelt sich beim Arzt um Phil. Neben ihm Flo. Zum Glück nicht Franco, das hätte mir noch gefehlt.
Bei dem Blick auf Fine fluchen die zwei kurz los.
„Spannungspneumothorax. Ich habe entlastet, sie ist jedoch bewusstlos geworden. Sättigung steigt wirklich langsam. Intubation?", halte ich mich so kurz es geht.
„Du hast punktiert?", fragt Phil erschrocken.
„Später. Also?"
Er nickt. „Intubation." Dann probiert er nochmals, Fine zu erwecken. „Fine? Hörst du mich?" Dabei reibt er ihr übers Brustbein, doch sie zuckt kein Stückchen.
Währenddessen habe ich Flo schon mit den Medikamenten geholfen. Die zwei fremden Sanitäter lassen wir gerade irgendwie komplett außen vor. Aber hauptsache wir bekommen Fine stabilisiert. 

Nach der erfolgreichen Intubation steigt die Sättigung schneller.
Dennoch ist mir zum Heulen zumute. Noch nie habe ich ein so schreckliches Bild gesehen. Fine liegt beatmet vor mir. Dabei hatten wir doch bis gerade noch einen schönen Tag.
Flo holt mich aus meinen Gedanken. Ich habe wie paralysiert dabei zugesehen, wie Fine auf die Trage gehoben und weggeschoben wurde.
„Dein Autoschlüssel. War in ihrer Hosentasche. Was ist denn passiert?"
„Sie hat sich doch nur für ein kleines Mädchen eingesetzt. Wenn ich nur kein Brot geholt hätte", flüstere ich. Tränen treten in meine Augen, egal, mit welch einer Kraft ich probiert habe, sie zu unterdrücken. Ich drehe mich von Flo weg, doch er hat es schon bemerkt.
„Hey, dich trifft keine Schuld. Außerdem ist sie doch jetzt stabil, das hast du gesehen. Ihre Sättigung ist auch wieder gestiegen. Es wird alles gut."
Langsam fange ich an, ihm das zu erzählen, was ich selber weiß. Eine ungeheuere Wut entwickelt sich, wenn ich an die Jugendlichen denke. Marc hat sich, als die Sanis gekommen sind, noch schnell von mir verabschiedet. Später wollten sie Fine heute eigentlich erneut befragen, aber das können sie ja jetzt vergessen. Muss ich ihnen noch schreiben.
„Die werden schon ihre gerechte Strafe bekommen", probiert Flo, mich zu beruhigen. „Kommst du allein zur Klinik, oder soll ich dich mitnehmen?"
„Mein Auto."
Flo zuckt mit den Schultern. „Kumpel, ich bestimme das jetzt. Und in deinem Zustand kannst du nicht fahren, sonst bist du der nächste Notruf. Komm, ich nehme dich mit."
Stimmt. Ich zittere, was mir jetzt erst auffällt.
„Wie sollen wir das nur Franco erzählen?" Ich raufe mir verzweifelt die Haare.
„Ich werde das übernehmen. Aber sag mal, das interessiert mich schon. Du hast gesagt, dass du entlastet hast?"
Also erzähle ich ihm auch diese Geschichte.

Franco ist, wie befürchtet, aus allen Wolken gefallen. Ich bin in der Notaufnahme schon auf ihn gestoßen, denn er hatte zufällig mit unserer Ankunft einen Patienten eingeliefert. Hätte ich ihn nicht auf den nächsten Stuhl gedrückt, wäre er mir in die Arme gekippt. Das war es dann mit dem Dienst für diesen Tag gewesen.

Die Minuten vergehen wie Stunden. Ich bin gerade dabei, bestimmt zum zehnten Mal die Bodenfliesen des Empfangsbereichs zu zählen, als Charlotte vor uns auftaucht. Sie hat sich um Fine gekümmert. Zwischendurch war ich jedoch auch schon dreimal Kaffee holen und habe Paula, Tim und Anni informiert. Keine schöne Aufgabe. Phil musste danach sofort weiter zum nächsten Einsatz, sonst hätte er Paula auf der Wache übernommen. Ich habe Phil angesehen, dass ihm das Weiterarbeiten schwerfällt, jedoch ist es für ihn jetzt auch eine gewisse Ablenkung.
„Und?", fragt Franco und springt sofort auf.
Behutsam drückt Charlotte ihn wieder zurück. Sie schüttelt langsam den Kopf.
Franco weicht jegliche Farbe aus dem Gesicht, und auch mir wird schlagartig schlecht und schwindelig.  Kopfschütteln ist nie ein gutes Zeichen.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now