130 - Bereit für einen Tapetenwechsel

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"Hier ist dein Frühstück."
Mein Blick ist starr aus dem Fenster gerichtet. Ich würde gern ein 'Danke' hervorbringen. Oder besser gesagt hochwürgen, aber es geht nicht. Ich kann diesem Menschen nicht mehr ins Gesicht gucken.
"Brauch ich nicht", bringe ich zu meiner eigenen Verwunderung über meine Lippen.
"Verfällst du wieder in alte Muster?" Seine Stimme klingt vorsichtig, vorsichtig besorgt. Und viel zu sanft.
"Das... würde dich nichts angehen", flüstere ich und beginne, die Blätter am Baum zu zählen.
Spaß. Zu dieser Jahreszeit hängen keine Blätter am Baum. Leider. Dann eben die Zweige. Aber wo ist dort der Anfang und das...
"Du musst etwas essen, bitte."
Es schnürt mir den Hals zu, ihn das sagen zu hören.
Meine Atmung geht flach, als ich probiere, die alten Bilder zu verdrängen. Wow. Ich hänge nicht ehrlich noch immer daran.
Doch es verändert sich etwas. Mit jedem Atemzug verblasst das Bild von Tim und mir, wie wir im Krankenhausbett liegen und Nudeln essen.

Langsam drehe ich meinen Kopf in seine Richtung. Es durchzuckt mich bei diesem Anblick kurz, doch ich ermahne mich zur Ruhe. Zur Vernunft. Auch wenn Vernunft nicht gerade an meiner Tagesordnung steht.
Er zieht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Passt zum momentanen Himmel, der sich in eine graue Wolkendecke kuschelt. So ein kleines Gewitter wäre jetzt schön.
"Tim, du...", meine Hände krallen sich in die Bettdecke, ich ringe mit mir, ob ich das jetzt aussprechen soll, "... du kannst es aufgeben, wirklich. Die Zeit heilt alle Wunden. Zumindest die meisten, aber ich denke, dass du ganz bald eine neue Person kennenlernst. Wir sind so verdammt jung, diese Trauer ist für unser Alter doch gar nicht normal." Ich schließe kurz meine Augen, und da schleicht sich doch tatsächlich der Hauch eines Lächelns auf meine Lippen. "Es wäre schön, wenn wir jetzt so auseinandergehen könnten, ohne uns vorher angeschrien zu haben."

Nervös forsche ich in seinem Gesicht nach Anhaltspunkten, wie er nun reagieren könnte. Doch ihm klappt vorerst nur der Mund auf.
"Du kannst das Frühstück wieder mitnehmen, ich habe keinen Hunger. Und auch wenn dich das eigentlich nichts angeht, kann ich dich beruhigen. Ich esse ganz normal, aber das gestrige Ereignis liegt mir noch etwas schwer im Magen." Ich hebe meine Mundwinkel noch ein wenig mehr, um ihm meine Aussage somit zu versichern

Er scheint seine Sprache verloren zu haben. Ohne einen weiteren Laut von sich zu geben, nimmt er das Tablett wieder mit nach draußen.
Es dauert kurz, ehe sich seine Schritte von meinem Zimmer entfernen.
Und ich fühle mich mit einem Mal so befreit wie schon lange nicht mehr. Eine Leichtigkeit fließt durch meinen gesamten Körper, die mich unwillkürlich lächeln lässt.
Wäre das wohl nun wirklich geklärt.

****

"Da lang!" Papa schiebt mich nach rechts, da ich fast falsch abgebogen wäre.
"Und ihr seid euch sicher, dass das gut aussieht?", hakt Alex mit seiner vollen Skepsis nach, die er dieser ganzen Aktion seit Anfang an entgegenbringt. Also seit genau zwei Stunden. Okay, vielleicht nicht ganz zwei Stunden, etwas weniger.
"Ja, das wird super aussehen, glaub mir", bestätigt Paula voller Tatendrang.
Phil grinst seine Freundin an, bevor er zu Alex schielt. "Ich glaube, wir können ihr vertrauen. Sie weiß schon, was sie tut."

Ich eile Paula den langen Gang mit beinahe deckenhohen Regalen hinterher. "Aber denk daran, zu dunkel darf es nicht werden."
"Ich weiß doch", sagt sie und bleibt hinter der nächsten Ecke stehen. "Hier sind wir richtig. Also, was meinst du?"
Sie greift nach einer Farbkarte und dreht diese im grellen Licht der Leuchtstoffröhren. Das pure Tageslicht nachgeahmt.
"Zu dunkel", stellen wir beide synchron fest und lachen im nächsten Moment.
"Und dieser Ton?" Diesmal halte ich das kleine graue Kärtchen in der Hand.
"Das ist...", beginnt Paula. "Perfekt", ergänze ich. Sie bestätigt das mit einem Nicken.

"Aah!"
Paula und ich fahren herum.
"War das", Paula guckt mich stirnrunzelnd an, "Phil?"
Langsam nicke ich. "Das... hat sich irgendwie nach ihm angehört. Auch wenn es ziemlich quietschig war."
"Du Idiot! Das bekommst du zurück!", schreit Phil plötzlich mit seiner normalen Stimme.
Und im nächsten Moment rast ein lachender Alex um die Ecke, dicht gefolgt von Phil, der einen großen Pinsel in der Hand hält.
"Was zur Hölle", murmelt Paula und verfolgt die beiden erwachsenen Männer, die gerade eher wie zwei kleine Bengel scheinen, mit ihrem Blick.
Papa und Toni kommen kurz darauf mit dem vollen Wagen ebenfalls um die Ecke.
"Die Rolle ist die beste, glaub mir", beharrt Toni scheinbar auf seiner Meinung.
"Nein, die Rolle. Ich habe schon mal ein ganzes Haus gestrichen", erwidert Papa, der anscheinend auch eine ganz klare Meinung hat.
Paulas und mein Blick treffen sich. "Männer."

Mir entweicht ein leises Husten. Eigentlich wollte ich das unterdrücken, aber irgendwann geht das einfach nicht mehr.
Sofort gucken mich alle an. Papa und Toni, die gerade noch über irgendwelche Rollen debattiert haben, Phil und Alex, beide einen Pinsel in der Hand und schwer atmend von ihrer Verfolgungsjagd, Paula mit fünf verschiedenen Kärtchen an Grautönen in ihrer Hand.
"Leute, alles gut, es hat nur mal ganz normal in meinem Hals gekratzt", beschwichtige ich sofort diese ganzen argwöhnischen Blicke der anderen.
Ich wurde vor drei Tagen aus der Klinik entlassen - und darf seitdem nicht mehr husten, ohne direkt eine Einweisung auf die Intensivstation zu bekommen.
"Paula und ich haben eine passende Farbe gefunden", werfe ich dafür zur Ablenkung ein.
Und das klappt auch, denn einen Augenblick später bestätigen alle die neue Wandfarbe für unser Wohnzimmer.

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Josefine hat das erste Jahr Pech nach ihrem Spiegelunglück schon fast überstanden - wenn auch ziemlich chaotisch. Doch mit diesem einen Jahr ist es nicht getan. Zwischen den ganzen mehr oder minder netten Überraschungen, die der Spiegel für sie bereithält, soll sie nun auch noch fernab von ihrem Zuhause erfahren, dass ihre Familie nicht immer ganz ehrlich zu ihr war...

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Kapitel eins des zweiten Teils ist bereits auf meinem Profil zu finden! :)
Ich hoffe, ihr habt alle ein Interesse am zweiten Teil, in dem noch so einiges passieren wird.

Vielen lieben Dank für jeden einzelnen Kommentar unter dieser Geschichte, für jeden einzelnen Read, für jeden einzelnen Vote. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass diese Geschichte so viele Leser erreichen wird, wow.
Ich würde mich freuen, wenn man sich im zweiten Teil liest :)

Ein letztes Mal in diesem Teil der Geschichte: Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now