127 - Der schreiende Nebel

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"Was?", frage ich verunsichert. Die Tatsache, dass Anni mich anstarrt, als hätte sie soeben wandelnde Zombies gesehen, macht mich noch nervöser, als es dieser Geruch allein schon schafft. Ich meine, der kann rein theoretisch immer mal sein. Woher auch immer der kommen könnte. Aber jetzt haben wir die Quelle anscheinend direkt neben uns.
"Alles voller Rauch", flüstert sie. Ihre Stimme zittert, ist beinahe ein Hauch von Nichts.
Wir starren uns an. Nicht dazu fähig, etwas zu unternehmen.
Bis Anni diese endlos scheinenden Sekunden unterbricht. "Und jetzt? Was sollen wir machen?"
Parallel zu ihrer panischen Frage setzt ein weiteres Geräusch ein, welches mir direkt einen eiskalten Schauer über den Rücken jagt. Wenn man denkt, dass es nicht schlimmer kommen kann, dann fängt der Nebel zu schreien an. Im wahrsten Sinne des Wortes.

"Anni, du rufst die Feuerwehr. Wer wohnt da?" Ich schiebe sie zur Seite, als wäre sie ein Pappaufsteller, der nutzlos im Weg herumsteht. Wenigstens einer muss jetzt einen kühlen Kopf bewahren.
Ich lehne mich zum anderen Balkon rüber - und sehe nur Rauch im Wohnzimmer. Scheiße.
"Anni, wer wohnt da?", wiederhole ich meine Frage mit mehr Druck, nachdem die Antwort ausgeblieben ist.
"Eine ältere Frau. Und manchmal ist... d-da ist ihre kleine Enkelin bei ihr." Ihre Stimme wird von Wort zu Wort brüchiger. Wir beide wissen, woher das Kindergeschrei kommt.
"Okay, ruhig bleiben. Ich muss das Kind holen. Du rufst sofort die Feuerwehr und holst die anderen Leute aus dem Haus, verstanden?" Ich atme zitternd ein und gucke mir den Weg an, der mir bleibt, wenn ich rüber möchte. Es muss klappen. In der Wand, die die beiden Balkone trennt, ist eine kleine Einkerbung. Außerdem würde mich die Brüstung von einem Absturz abhalten.
Doch Anni reißt ihre Augen auf. "Du kannst doch da nicht rüber!", schreit sie mich von Angst gepackt an.
"Das Kind. Und wenn es schreit und dort keine Regung ist, muss etwas mit der älteren Frau sein. Also. Ruf jetzt verdammt nochmal die Feuerwehr!" Vom Rumstehen kommt sie auch nicht angefahren.
"Warte, ich hole dir einen Schal. Du vergiftest dich noch", sagt sie und sprintet los.
Dafür bleibt mir aber keine Zeit. Augen zu und durch. Wobei - Augen sollte ich lieber geöffnet lassen.

Mein Herz lässt meinen ganzen Körper pulsieren, meine Glieder zittern und mein Magen hat sich umgedreht. Ich schalte meine Umgebung aus. Höre Anni aufgeregt telefonieren, höre Anni, wie sie meinen Namen schreit. Aber alles kommt nur gedämpft zu mir durch.
Ich bin auf dieses weinende Kind fokussiert.
Die Balkontür ist nur angelehnt, weshalb ich sie problemlos aufdrücken kann. Beinahe hätte ich vor Erleichterung tief durchgeatmet. Wäre eher kontraproduktiv.
Der Rauch brennt in meinen Augen. Ich ziehe mein Shirt hoch, um es vor meine Nase zu halten. Jeder Atemzug fühlt sich an, als würde mir mehr und mehr die Luft genommen werden.
Mir ist heiß. Es ist eine Sache von Sekunden, bis mir der Schweiß auf der Stirn liegt. Ich kann nicht zuordnen, woher das kommt. Aus Angst, aufgrund der Wärme? Ich kann aber kein offenes Feuer ausmachen.

Zischend springe ich zur Seite, als ich mir meinen Fuß am Sofa stoße, welches ich übersehen habe. Darauf folgt ein elendiges Husten meinerseits, das war zu viel Rauch mit einem Zug.
Meine Augen sind nahezu nutzlos, ich verlasse mich auf meine Ohren, die mich dem Weinen immer näher bringen.
Schlussendlich stehe ich vor einem verschlossenen Zimmer, ganz hinten in der Wohnung.
Ich öffne die Tür, verschließe sie sofort wieder, kaum dass ich das Zimmer betreten habe. Die Luft hier ist leicht nebelig, aber eine Wohltat für meinen Körper.
Ich traue mich, etwas tiefer einzuatmen, während ich mich mit zwei großen Schritten zum Kinderbett bewege. Nichtsdestotrotz werde ich von einem kratzigen Husten geschüttelt.
"Alles ist gut, ich habe dich, du bist in Sicherheit", murmele ich dem kleinen Kind zu und hebe es aus dem Bett. Ich schätze die Kleine auf acht Monate, wobei ich im Schätzen ziemlich schlecht bin.
Aber im Grunde ist das nun auch egal.

Ich drücke ihr ein Halstuch vor die Nase, welches auf einer Kommode liegt, bevor ich binnen weniger Sekunden zur Wohnungstür stürze. Anni steht davor, ihr Gesicht völlig bleich.
Kurz keimt in mir die Sorge auf, dass sie gleich umkippt, aber dafür habe ich keine Zeit.
Ohne viel Vorsicht drücke ich ihr das Kind in die Arme. "Aufpassen und raus hier", befehle ich und drehe mich wieder um.
"Josefine, komm da jetzt raus! Die Feuerwehr ist gleich da!", probiert Anni vergeblich, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Aber nein.
"Gleich kann zu spät sein", gebe ich gereizt zurück. So gereizt, wie es meine Atemwege sind.
Ein ächzendes Husten unterstreicht zwar Annis Aussage, aber ich schaffe das schon.
Ohne viel darüber nachzudenken, betrete ich die Wohnung erneut.
"Josefine!"
Ich ignoriere das. Das Wort Vernunft existiert in meinem Wortschatz nicht.

Auf gut Glück öffne ich die erste Tür, die im Flur neben der Wohnungstür ist. Und werde fündig.
Nicht zum ersten Mal bin ich heute froh, dass in dem Raum die Luft so gut wie rein ist.
Tief durchatmen, Ruhe bewahren, husten. Auf das Husten hätte ich gut und gern verzichten können.
Eine ältere Frau, wie Anni gesagt hat, liegt in einem Bett und schläft seelenruhig.
Meine Gedanken rasen. In dieser kurzen Ruhe werde ich vom Schwindel gepackt. Nein, bloß nicht umkippen. Nicht jetzt, dafür habe ich keine Zeit.

"Hallo, hören Sie mich?", schreie ich im nächsten Moment die Frau an, dann rüttele ich an ihr.
Sie zuckt zusammen und weicht im liegen vor mir zurück.
"Wer bist du und was machst du in meiner Wohnung?" Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie mich an.
"Es brennt, Sie müssen hier raus!" Ich bin bemüht, den Ernst der Lage mit meiner Stimme auszudrücken. Wenn sie gerade erst aufgewacht ist, kann es dauern, bis sie das wirklich begreift.
"Bitte was?"
"Es brennt! Kommen Sie jetzt." Ich zerre sie aus dem Bett. Leider muss ich feststellen, dass sie ziemlich wackelig auf den Beinen wirkt.
Ein heftiger Hustenanfall lässt meinen Körper beben.
"Kindchen, das hört sich ja nicht gut an. Sag mal, ist mit meinen Augen etwas falsch oder liegt hier ein feiner Nebel in der Luft?" Verwirrt guckt sie sich um, während sie immer wieder ein Auge zukneift. Der Nebel wird bleiben, egal, wie oft sie ihre Augen zukneift.
"Es brennt", unterstrichen von einem Husten meinerseits, "habe ich doch gesagt. Und jetzt raus hier."

Mit der letzten Kraft schaffe ich es, die Frau nach unten an die frische Luft zu befördern.
Diese ganze Situation, von der Erkenntnis, dass es raucht, bis jetzt, war eine Sache von wenigen Minuten, hat mich aber wie ein Marathon ausgelaugt.

Menschen verstopfen den Gehweg. Anni sitzt neben mir auf dem kalten Boden und mustert mich besorgt.
Mein Bauch tut vom Husten weh, in meinem Kopf scheint eine tickende Zeitbombe zu sitzen, die mir immer wieder schmerzlich beweist, dass sie da ist.
Sirene von allen Seiten strömen in unsere Richtung.
Auch wenn ich gar nicht mehr wirklich weiß, wo ich mit mir hin soll, habe ich noch einen Wunsch.
Bitte lass keinen kommen, den ich kenne. Wobei die Wache auch etwas weiter weg von Annis Wohnung ist. Also stehen die Chancen ziemlich gut.

Konzentriert fixiere ich einen Stein auf dem Boden, der sich wellenförmig bewegt. Faszination überschwemmt mich. Oder nennt man das Schwindel?
"Sie da braucht auf jeden Fall sofort Hilfe. Die Kleine neben ihr hat mir erzählt, dass sie die Dame und das Baby aus der Wohnung gerettet hat", vernehme ich leise.
"Hey, guck mich mal an." Mir wird grob auf die Schulter gehauen.
Ein Mann in blau-roter Kleidung guckt mich besorgt an.
"Mh? Bin ich im Weg?", frage ich verwirrt. Ich raffe gar nichts mehr. Der Mann vor mir hat ein schräges Gesicht. Und... zwei Köpfe?
Ich lehne mich etwas nach hinten, werde jedoch sofort vom Sanitäter festgehalten.
Feuerwehrmänner rennen an mir vorbei. Tschüssi.
Ich will mich zur Seite lehnen und wieder husten, was ich schon die ganze Zeit mache, doch er hat mich fest im Griff.
Angestrengt probiere ich, den Husten zurückzuhalten, um ihm nicht ins Gesicht zu husten.
"Lass es raus", sagt er jedoch nur, ehe er mich auf die Beine zieht.
Wenn er will.
Ich huste mir die Seele aus dem Leib. Um noch eine Schippe draufzusetzen, beglücke ich den Boden vor dem RTW mit meinem Frühstück.
Der Sanitäter scheint das schon vorher geahnt zu haben, denn er hat mich geschickt zur Seite gedreht, sodass ich zwar in seinen Armen hing, ich jedoch nichts weiter getroffen habe.
"Sorry", murmele ich, ohne überhaupt zu wissen, woher dieses plötzliche Erbrechen kam. Ekelhaft.
"Alles gut", beruhigt er mich und legt mich auf die Trage.
Erst jetzt bemerke ich, dass Anni uns gefolgt ist und sofort neben mir im RTW steht.

Die Sanitäter sind von einer anderen Hilfsorganisation. Ich weiß nun jedoch nicht, ob ich darüber froh sein soll. Was ist, wenn die mich...
"Hey, schön bei uns bleiben. Augen aufhalten." Mir tätschelt jemand meine Wange, ein anderer setzt mir eine Maske auf, aus der Sauerstoff kommt.
Irgendwie fühlt sich das befreiend an.
"Wie lange war sie in der Wohnung?", wird Anni gefragt.
Denken die etwa, dass ich zum Antworten nicht fähig bin? Mir geht es doch super... ich huste und übergebe mich ein zweites Mal. Gerade so hat mir einer die Maske abgemacht und etwas unter mein Gesicht gehalten. Mir geht es super gut, um es zu vollenden.

Ein Funkgerät knackt. Irgendwas mit einem NEF, aber wirklich verstehen kann ich es nicht.
"Kannst du die Eltern deiner Freundin informieren?", fragt wieder einer an Anni gerichtet.
"Lass die Ärztin nochmal schauen, das ist mir hier sicherer", kommt es von seinem Kollegen.
Ich bin verwirrt, bekomme die ganzen Zusammenhänge nicht mehr wirklich auf die Kette.
Kette. Kettenkarussell. Das, in dem ich sitze, dreht sich gerade eindeutig zu schnell.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Tempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang