57 - Wenn der Notarzt selber Hilfe braucht

3.9K 135 25
                                    

Papa macht im letzten Moment eine Vollbremsung. Eine Sekunde später - und wir wären hinten im RTW gewesen.
Wir sitzen da, Sekunden, die sich anfühlen wie etliche Minuten, in denen wir nicht fähig sind, etwas zu machen. Starren nur auf den vor uns geschehenen Unfall. RTW gegen PKW - gegen PKW. Dann reagieren wir im gleichen Moment und springen aus dem NEF. Vom RTW kam keine Reaktion.
Papa reißt die hinteren Türen auf. Es bietet sich uns ein Bild der Verwüstung. Eine Welle Adrenalin durchflutet meinen Körper, in dessen Ausmaß ich es noch nie erlebt habe. Phil liegt auf dem Boden, auf den Papa sich sofort stürzt. „Hey, Phil, mach die Augen auf", ruft er leicht panisch. Bewusstlos.
Ich gucke nach Jacky, die fest im Sitz sitzt, jedoch einfach geradeaus starrt. „Jacky, alles gut?" Sie nickt langsam. „Was ist passiert?", flüstert sie.
„Später", sage ich schnell und gucke nach Papa und Phil. Er ist wieder bei sich. Ich atme hörbar aus. Papa versichert sich bei Phil, dass vorerst alles okay ist, dann guckt er nach Anni, die ebenfalls teilnahmslos an die Decke starrt. „Sieht mir", er guckt an mir vorbei zu Jacky, „wie bei Jacky nach einem Schock aus. Guckst du nach Dustin, ich gucke nach den zwei Autos?"
Ich nicke nur, zum Reden bin ich nicht fähig. Ich eile aus dem hinteren Teil nach vorn an die Fahrerseite. Und als ich das richtige Ausmaß des Unfalles sehe, fährt mir ein kalter Schauer über den gesamten Körper und mein Herz legt einen Gang zu. Mein Blick ist auf die Beifahrerseite gerichtet. Hätte da jemand gesessen, dann... Nein, darüber denke ich nicht nach. Mein Blick richtet sich auf Dustin, darauf konzentriert, nicht immer wieder auf die Beifahrerseite abzuschweifen, in die das Auto mit voller Geschwindigkeit gerast ist. Das Bild kann mich noch in meinen schlimmsten Träumen verfolgen.
„Dustin, hörst du mich?" Nach kurzem Warten haucht er ein „Ja". An seiner Stirn hat er eine Platzwunde, aus der langsam das Blut fließt.
„Okay, gut. Warte kurz, ich hole schnell eine Kompresse, du blutest an der Stirn." Er regt sich nicht. Er wird hier den größten Schock von allen haben.
Hinten im RTW suche ich nach einer Kompresse. Phil kommt mir schnell zur Hand, gibt mir mit einem gezielten Griff Kompresse und Leukoplast. Er wusste anscheinend, was ich suche.

Nachdem ich Dustin die Kompresse befestigt und nochmals betont habe, er solle sich nicht bewegen, wovon eigentlich auch keine Gefahr ausgeht, wird er doch eh nicht dazu fähig sein, mache ich mich auf den Weg zu Papa, der mir schon entgegenkommt. Ich überliefere ihm das, was ich zu Dustin sagen kann.
Papa nickt und nimmt sein Funkgerät. „Leitstelle Köln für den 01/NEF/01 kommen."
„Leitstelle hört."
„Unser 02/RTW/01 hatte gerade einen Unfall, Notarzt und beide Sanitäter verletzt. Auto ist in RTW gefahren, in den Unfallfahrer ein weiteres Auto gerast. Insgesamt fünf neue Verletzte, zwei davon bewusstlos. Drei RTWs und am besten zwei NEFs werden benötigt."
„Verstanden, drei RTWs, zwei NEFs und Arnold sind unterwegs."
„Verstanden."
Während des Funkspruches habe ich mein Blick über die Lage gleiten lassen. Von allen Seiten bildet sich ein enormer Stau, der so schnell nicht aufzulösen geht. Und bis das hier behoben ist, dauert es noch ein ganz schönes Weilchen.

Papa schließt kurz seine Augen und atmet tief durch. Seine jahrelange Berufserfahrung stößt an seine Grenzen, er ist mit der Situation überfordert. Ich gucke Papa besorgt an, mit Angst, dass sein Körper aus Überforderung gleich ebenfalls streikt und er umkippt. Doch schnell wird unser beider Aufmerksamkeit auf eine andere Person gelenkt.
„So, was gibt es? Wie geht es Dustin?", erscheint hinter uns eine Stimme. Phils Stimme.
„Phil! Sofort wieder in den RTW!", schreie ich ihn erschrocken an.
„Mir geht es doch gut, ich habe doch nur eine Platzwunde."
„Nichts da nur eine Platzwunde. Du warst bewusstlos. Geh jetzt wieder, sofort!", Papa klingt etwas gereizt.
„Ich muss doch helfen, das ist mein Job!"
„Du hilfst uns aber nicht, wenn du wieder zusammenbrichst. Du hast wahrscheinlich eine Commotio", kontert Papa, in seiner Stimme bahnt sich Wut an.
„Aber...", will Phil ansetzen, wird aber von Papa unterbrochen. „Kein aber, du bist Arzt, du weißt, wie gefährlich das werden kann."
Schnaubend dreht Phil sich um. Einen Vorteil hatte diese Auseinandersetzung. Sie waren so auf sich fokussiert, dass sie meinen Zustand nicht bemerkt haben. Denn langsam aber sicher verschwindet jegliche Kraft, die mir zu Beginn zugeflogen ist. Mein Körper beginnt, mal wieder, zu zittern, meine Beine werden weich. Ich fasse mir an den Kopf. Dieser Schwindel überrennt mich. Liegt es an der Angst? Überforderung? Ich weiß es nicht. Die Umgebung dreht sich, meine Ohren rauschen.
„Josefine, du kippst mir jetzt nicht auch noch aus den Latschen", kommt es plötzlich panisch von Papa, der mich sofort auf den Boden drückt. Ich lasse es widerstandslos geschehen, ich habe ja auch keine andere Wahl. Phil, der sich eigentlich zum Gehen abgewendet hat, ist doch blitzschnell wieder bei uns. Und da sagt Papa plötzlich nichts mehr gegen, ist er wahrscheinlich doch froh, ihn jetzt bei sich zu haben.
„Was ist los mit dir?" Phil misst meinen Radialispuls.
„Mir ist so unglaublich schwindelig", murmele ich und probiere, vor mir eine klare Sicht zu schaffen. Vergebens.
„Sie ist auch ziemlich blass, so sah sie gerade noch nicht aus", kommt es von Papa an Phil gerichtet.
„Macht doch was", flüstere ich, Panik bahnt sich an. Was um alles in der Welt passiert hier mit mir? Da drückt Papa meinen Oberkörper auf den Boden, Phil hebt meine Beine an.
„Atme ruhiger, wird gleich besser", sagt Papa ruhig. „Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen und getrunken?"
Ich überlege kurz. Mein Kopf dröhnt. „Heute Morgen?", komme ich verlegen zur Kenntnis. Papa und Phil seufzen synchron auf, dann lässt Phil meine Beine wieder sinken. Und tatsächlich, mir geht es etwas besser.
„Ich lege dir gleich einen Zugang und du bekommst Flüssigkeit. Aber du lehnst dich jetzt ans NEF. Und Phil, wenn du schon nicht hören kannst, dann setz dich wenigstens zu ihr. Aber turne hier nicht umher, das bringt keinem was."

So sitzen Phil und ich kurzerhand am NEF, und Papa geht nach Dustin gucken. Im Auto, welches in den RTW gerast ist, steckt ein zweites. Die müssen sich ein Rennen geliefert haben.

„Und wie geht es Dustin nun?", fragt Phil und schiebt sich in mein Blickfeld. Anscheinend hat er meine Musterung des Unfalles bemerkt und will verhindern, dass sich das Bild in mein Gehirn brennt. Doch dafür ist es schon lange zu spät.
„Er steht wahrscheinlich unter Schock und hat eine Platzwunde an der Stirn. Deswegen die Kompresse." Ich schließe erschöpft meine Augen, wünsche mich gerade einfach nur noch ins Bett.
„Josefine, Augen bleiben offen, damit das klar ist", erwähnt Phil sofort mahnend.
Seufzend öffne ich sie wieder und lege meinen Kopf auf Phils Schulter. „Wie geht es dir?", frage ich, anstatt einen erneuten Versuch zu wagen, meine Augen zu schließen. Ich fühle mich einfach nur kraftlos.
„Erhlich?"
„Nee, weißt du?"
Er holt tief Luft. „Mein Kopf platzt gleich", gibt er zu.
Als Papa mit einem Rucksack ankommt, hebe ich meinen Kopf wieder. „Phils Kopf, ich zitiere, platzt gleich." Phil wirft mir einen mörderischen Blick zu, doch das ist mir herzlich egal.
„Habe ich es mir doch schon gedacht. Du hättest es mir gegenüber nur nie zugegeben", stellt Papa fest und schmunzelt kurz.

„Hört ihr das auch oder bilde ich mir das ein?", hinterfragt Phil vorsichtig, während Papa mir einen Zugang legt.
„Ich höre die Sirenen auch. Aber das wird noch lang dauern, eh die durch den Stau gekommen sind", sagt Papa und klingt verärgert „Die Leute sind für Rettungsgassen auch zu blöd."
Ich sehe, wie eine aufgelöste Frau auf uns zukommt. „Sie sind doch Arzt, wieso sitzen Sie nur so blöd da und helfen meinem Mann nicht?", schnauzt sie Phil an.
Papa steht auf und dreht sich zu ihr. „Wer ist denn Ihr Mann?"
„Der Fahrer des zweiten Autos, wieso sitzt der Typ, der Notarzt auf seinem Shirt stehen hat, nur da und kümmert sich nicht? Ich dachte, dafür sind Notärzte da."
„Weil der Arzt selbst verletzt ist, wie Sie sehen. Das ganze Team, bis auf mir, ist verletzt, Verstärkung ist unterwegs. Ich habe mir Ihren Mann schon angeguckt, er ist stabil, mehr kann ich alleine auch nicht machen. Gehen Sie zu ihm und sprechen mit ihm, sobald er wieder bewusstlos ist, rufen Sie mich."
Die Frau rennt zurück zu ihrem Mann und Papa guckt uns etwas verwirrt von der Situation an. „Nicht nur zu blöd für Rettungsgassen, auch zu blöd um offensichtliche Verletzungen zu erkennen", ergänzt Phil Papas vorherige Aussage.

------------

Sorry, dass es jetzt erst kommt. Dafür aber auch sehr lang. Mir wäre es unmöglich gewesen, den Unfall in einem Kapitel abzuarbeiten, aber zu viele wollte ich auch nicht brauchen. Heute kommt noch der nächste Teil.

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now