64 - Von blendender Gesundheit

3.5K 133 20
                                    

Immer mehr Schüler kommen auf den Schulhof und betreten das Schulgebäude. Unter ihnen konnte ich auch Anni ausmachen, die heute wieder zum ersten Mal seit ihrem Unfall in der Schule ist. War ich in den letzten Wochen nicht mit Tim beschäftigt, habe ich Anni besucht. So konnte ich den anderen zu Hause auch sehr gut aus dem Weg gehen. Außerdem habe ich drei Menschen in greller Kleidung gesichtet. Sie sind schon da.
Es ist still zwischen uns. Tim mustert mich immer wieder, doch ich ignoriere seinen Blick. Ich kann nicht wirklich sagen, was darin liegt. Besorgnis wird es wohl am meisten sein. Wie immer von jedem.
Das Vorklingeln durchtrennt das Schweigen. „Ich muss noch kurz auf Toilette. Du kannst ja schon mal vorgehen", sage ich, während ich langsam aufstehe. Ich befürchte, dass jede schnellere Bewegung meinen Kreislauf komplett überfordern würde.
Er verzieht unzufrieden sein Gesicht. Sieht man mir das immer sofort an, wenn ich Kreislaufprobleme habe? Ätzend. „Ich werde dich sicher nicht allein gehen lassen", entgegnet er schon fast streng.
Innerlich stöhne ich auf. Langsam setzen wir uns in Bewegung und er greift mir ernsthaft um die Hüfte. „Denkst du, ich kippe hier gleich weg? Das ist wirklich übertrieben", meckere ich, doch das lässt Tim kalt. Ich muss es wohl oder übel über mich ergehen lassen.

Wir sind erst vor den Toiletten angekommen, da klingelt es schon zum Unterricht.  Die unteren müssen ja auch genau heute gesperrt sein und wir mussten bis nach oben latschen. „Geh lieber, sonst bekommst du noch ordentlich Ärger von Frau Gerlach."
„Ich sollte eher einen von deinen Leuten holen. Du gefällst mir ganz und gar nicht."
Ich grinse ihn schief an. „Vielen Dank für das Kompliment, ich habe dich auch lieb. Aber ich muss jetzt wirklich." Damit drehe ich mich um und verschwinde hinter der Tür.
Mein Blick bleibt sofort im Spiegel über den Waschbecken hängen. Meine Haut wirkt fahl, und auch meine Haare sahen schon besser aus. Sie sind spröde, haben keinen Glanz. Mangelerscheinungen.
Nein, ich ernähre mich gesund. Da kommen keine Mangelerscheinungen. Ich stütze mich an einem Waschbecken ab und mustere mich noch eine Weile im Spiegel. Ich sehe schrecklich aus. Vielleicht haben...nein, sie haben kein recht. Mit mir ist alles gut, mir geht es blendend.
Blendend scheiße.
„Josefine, alles okay?", ruft Tim durch die Tür.
Wie aus Reflex mache ich den Wasserhahn an und bejahe schnell. Dann mache ich das, wofür ich ursprünglich auch gekommen bin. Ich spritze mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Auf Toilette muss ich eigentlich nicht.
Die kalten Wassertropfen tun gut und ich schließe kurz die Augen. Probiere, meinen Schwindel zu veratmen. Es  bringt alles nichts.

Vor der Tür zum Klassenraum wende ich mich aus Tims Griff. Wir müssen da jetzt nicht so erscheinen.
Ich setze ein Lächeln auf und öffne nach einem Klopfen die Tür. Durch große Konzentration schaffe ich es, keinem meiner Familie einen Blick zuzuwenden. Dennoch bohren sich deren Blicke praktisch in mich hinein, das spüre ich.
„Josefine, Tim, wo wart ihr? Und ihr könnt euch mal für eure Verspätung entschuldigen, immerhin haben wir heute Besuch, den ihr gerade unterbrochen habt", legt Frau Gerlach sofort los.
Ich verdrehe die Augen und lasse mich neben Anni fallen, die mich ebenfalls ziemlich skeptisch mustert. Jetzt schweift mein Blick doch kurz nach vorn. Diese Besorgnis in ihren Blicken, ich kann sie nicht mehr ertragen.
„Tut uns leid", nuschele ich an Frau Gerlach gerichtet, bevor sie gar nicht mehr locker lässt.
„Bekomme ich vielleicht auch noch eine Begründung für eure Verspätung?"
Mensch, sie ist heute ja mal wieder bester Laune. „Ich war auf Toilette, wenn Sie es so genau wissen wollen", gebe ich in einem vielleicht etwas zu motzigen Ton von mir.
Papa räuspert sich warnend. Ich muss auf meinen Ton achten. „Was haben wir verpasst?", frage ich schnell, nun freundlicher, und gucke Alex an.
„Nur die Vorstellung. Wir wollten gerade anfangen", sagt er und lächelt mich an.
„Na da haben wir ja nichts verpasst", flüstere ich und lehne mich zurück.

Ich folge dem Kurs nicht wirklich. Zumindest nicht dem theoretischen Teil. Einerseits habe ich das schon oft genug von ihnen gehört, andererseits nehmen meine Kopfschmerzen immer mehr zu.
„Josefine!"
Mein Blick schnellt nach vorn. Paula guckt mich auffordernd an. Ich lasse meinen Blick durch den Raum gleiten. Die Tische wurden zur Seite geschoben, sodass in der Mitte des Raumes viel Platz ist. Meine Klasse steht verteilt in einem Kreis.
Als ob ich so weg war, dass ich davon nichts mitbekommen habe. Das ist doch alles mit Krach verbunden.
„Kommst du bitte zu uns in den Kreis?", bittet Paula mich nun.
„Tut mir leid, hab euch nicht gehört", brumme ich und will mich erheben. Richtig - ich will.
Kaum stehe ich auf meinen äußerst instabilen Beinen, sacke ich zurück auf den Stuhl und fasse mir an den Kopf. Der Raum hat gerade Loopings gedreht, das könnte ich schwören.
„Ist alles okay?", fragt Papa. Natürlich ist alles gut, sieht man doch. Die Frage hätte er sich wirklich klemmen können.
„Das reicht mir jetzt", sagt Alex entschlossen. Er macht Anstalten, zu mir zu kommen.
Was auch immer er jetzt mit mir vorhat, nicht vor meiner Klasse. Kein Interesse an noch mehr Aufmerksamkeit.
Mit viel Willenskraft stehe ich erneut auf, gehe zwei Schritte, bleibe schließlich jedoch stehen. Das bringt hier alles nichts. Ich fühle mich wie auf einem Schiff, welches gerade die höchsten Wellen eines Unwetters unter sich hat.
Alex packt mich gerade noch so an den Armen, ehe meine Beine wie Grashalme wegknicken.
„Hey, hey, hey, du bleibst schön bei mir, hörst du mich?", sagt er aufgeregt, während er mich langsam auf den Boden sinken lässt.
„Bin doch da", beruhige ich ihn leise.
„Wer weiß für wie lang noch", kommt es von ihm zurück, eher zu sich selbst.
Vielen Dank für den Mut, da geht es mir doch sofort besser.

-------------

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt