102 - Die eine Nacht im Treppenhaus

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„Fine, komm jetzt! Wir müssen los!"
Ich gebe keine Antwort, vergrabe mein Gesicht dafür im Kissen.
„Wir haben einen festen Termin!", schiebt Alex nach meiner ausbleibenden Antwort hinterher.
Soll der Termin halt Termin bleiben, ist mir so ziemlich egal.
„Dann eben auf diese Tour, wie Sie wollen, junge Dame."
Ich zucke, als Alex mich packt. Er ist hochgekommen?
„Was ist dein Problem? Du hast dich noch nie so davor gesträubt, in die Klinik zu gehen. Möchtest du irgendwas loswerden?"
„Nein", brumme ich, probiere indes, mein Zittern zu unterdrücken. Ich möchte nicht in die Klinik. Punkt.
„Mit leerem Magen bist du wirklich unausstehlich", murmelt Alex leicht lachend.
An meinem Hunger liegt meine Laune nicht, im Gegenteil. Mein Magen fühlt sich an, als würde er mit Blei vollgestopft sein. Mir ist einfach nur übel, wenn ich an die eine Nacht denke.

Alex setzt mich auf den Beifahrersitz. „Schafft die Kleine das Anschnallen selber?"
Ich würde das hier alles auch gern lustig finden.
Er seufzt. „Dann mach ich das eben." Und so schnallt er mich auch noch an.
Die Tür hinterlässt einen warmen Windstoß, ich bekomme dennoch eine Gänsehaut. Klinik. Ich will nicht.

„Wovor hast du Angst?" Alex wendet seinen Blick ganz kurz von der Straße. „Ich sehe, dass du Angst hast."
Ich drücke meinen Kopf regelrecht an die Fensterscheibe, die sich sofort erhitzt. Mein Hals kribbelt, ein Schmerz kriecht in ihm empor, der Vorbote für Tränen.
Sicherlich werde ich nichts sagen. Sie meinen dann alle nur, dass ich mich in etwas reinsteigere.

Ich schweige. Schweige die ganze Fahrt. Schweige in der Klinik über die Untersuchungen hinweg. 

„Sie sagt schon die ganze Zeit nichts mehr", sagt Alex zu Frederik, als wir in seinem Behandlungszimmer eigentlich die letzten Dinge vor der anstehenden OP klären.
„Fine, hallo, alles okay bei dir?" Frederik schnipst vor meinem Gesicht herum. Ich fahre aus meinen Gedanken. Aus den Gedanken an die eine Nacht. Ich hatte nie wirklich damit zu kämpfen, aber jetzt kommt alles mit voller Wucht zurück.
„Ich will nicht", flüstere ich und starre auf einen unbestimmten Punkt an der Wand.
Die Psyche siegt, lässt meinen Körper zittern. Tränen steigen auf und brennen in meinen Augen. Sie würden endlich diesen ekelhaften Schmerz in meinem Hals löschen, wenn ich sie nur freilassen würde.
„Was ist mit dir los?" Alex legt mir sanft eine Hand auf die Schulter, doch sofort schüttele ich sie ab.
„Du hast doch keine Angst vor dem Spiegel, oder?", hinterfragt Alex vorsichtig, ein Hauch von Selbstvorwürfen schwingt mit.
Der Spiegel war gerade wohl so ziemlich das letzte, woran ich gedacht habe.
Ich verneine.
„Wovor hast du dann Angst?"
Es ist wie ein Schutzmechanismus, der mich von den Schmerzen erlöst. Die Tränen sind raus.
„Was ist, wenn wieder ein geisteskranker Typ irgendwas klauen will und mich dabei fast umbringt?" Ich schnappe nach Luft, habe wiederholt das Gefühl, als würde jemand meinen Hals zudrücken. In meinem Kopf spielt sich diese eine Nacht im Treppenhaus von vorn ab. Die Vorstellung, erneut über Nacht alleine in der Klinik zu sein, treibt mich beinahe in den Wahnsinn, auch wenn ich an sich nicht allein wäre. Sag das mal meinen Gedanken, denen ist das ziemlich egal.
Frederik steht auf. „Stress vor der OP ist jetzt eher suboptimal."
Er kramt in einer Schublade, verlässt den Raum und kommt kurz darauf mit einem Glas Wasser und einem kleinen Becherchen, in denen immer die Medikamente verteilt werden, wieder.
„Nimm die, das ist die tolle 'Ist-mir-alles-scheiß-egal'-Tablette. Dann wirst du wieder ruhiger und dann geht es in den OP."

Ich fühle mich, als wäre ich überfahren worden.
Jemand greift nach meiner Hand. Schwach kann ich Papa ausmachen, der mich anlächelt.
„Ich bin bei dir, alles gut."
Erleichtert schließe ich meine Augen wieder und schlafe binnen Sekunden erneut ein.

Als ich das nächste Mal aufwache, liege ich in meinem Zimmer auf der Kinderstation.
„Mir ist übel." Mit dieser ersten Nachricht meinerseits ziehe ich Papas und Phils Aufmerksamkeit auf mich. Alex hat Nachtschicht, deshalb konnte er nicht mehr bleiben.
„Musst du dich übergeben?", fragt Phil sofort.
Witzig. Das weiß ich doch nicht.
„Weiß nicht", spreche ich dann auch aus. Eigentlich könnte ich gleich weiterschlafen, aber ich will nicht riskieren, alleingelassen zu werden.
Ich gucke nach rechts. Dort steht ein zweites Bett mit Plane, jedoch steht eine kleine Reisetasche auf diesem. Das ist nicht meine.
Mein Blick muss wohl ziemlich verwirrt sein, denn Phil ergreift lächelnd das Wort. „Alex hat uns von deiner Angst erzählt. Da habe ich spontan all meine Überstunden zusammengekratzt und noch drei Tage unbezahlten Urlaub genommen. Ich werde hier schlafen, damit du nicht alleine bist."
Meine Augen werden groß. „Das hast du für mich gemacht? Aber das geht doch gar nicht, dafür bin ich schon zu alt."
„Kontakte", haut Papa raus. „Eigentlich wollte ich bei dir bleiben, aber die ganzen Sanis werden bei uns gerade krank. Da brauchen die jeden, der kann."
Ein dicker Stein fällt mir vom Herzen. Phil gibt mir die Sicherheit, die mir sonst gefehlt hätte.
Leider legt die Übelkeit dennoch gewaltig zu. „Ich glaube, ich muss doch...", nuschele ich.
Papa hat meinen Blick schon erkannt und die nächste Nierenschale ergriffen. In der letzten Sekunde hält er mir die unter die Nase.
„So doll freust du dich über diese Nachricht?", fragt Phil schmunzelnd, seine Augen strahlen dennoch Mitleid aus.
„Ich freue mich wirklich darüber", erwidere ich schnell, nachdem ich mir den Mund abgewischt habe.
„Ja, ich weiß. Du wirst gerade einfach auf die Narkose reagieren. Aber wenn es einen Notfall gibt und sie das Bett brauchen, muss ich leider gehen, das weißt du, oder?"
Ich nicke, will darüber jetzt aber nicht nachdenken.

„Phil, schläfst du schon?", frage ich leise in das dunkle Zimmer.
„Nein."
„Okay."
Ich höre Phil lachen. „Ist alles okay? Hast du irgendwie Schmerzen?"
Langsam richte ich mich auf und drücke auf den Knopf meines Handys. Das grelle licht blendet mich, ich kneife sofort meine Augen zu.
„Es ist halb zwölf, falls du das wissen wolltest", kommt es vom anderen Bett.
„Danke."
Ich höre, wie Phil aufsteht und das Licht anknipst. Schon wieder muss ich gegen das Licht anblinzeln.
„Ist alles gut bei dir?" Er setzt sich auf die Bettkante meines Bettes.
„Hab ein bisschen Schmerzen, aber es geht."
„Soll ich jemanden holen? Dann kannst du besser schlafen."
Ich nicke, also steht Phil wieder auf und verlässt das Zimmer.

Meine Gedanken schweifen wieder in die Vergangenheit. Mein letzter Krankenhausaufenthalt war, abgesehen von Italien, wegen Tim.
Dass der auch noch Anni bequatscht und sich bei ihr ausheult. Denkt der ernsthaft, dass ich ihm da irgendwie verzeihen werde? Mein komischer Gedanke von neulich, dass ich meine Meinung nochmal ändern könnte, wenn ich ihn sehe, war auch völliger Blödsinn. Er hat mich verletzt, da gibt es nichts mehr zu rütteln.
„Fine?" Eine Hand legt sich auf meine Schulter.
Ich schüttele kurz meine Gedanken weg. Zumindest versuche ich das. Vergeblich. „Mhm?"
Tabea guckt mich schief an. „Wo tut es denn weh?"
„Hier." Ich deute auf die Stelle, an der ich heute operiert wurde. Wo soll es sonst wehtun?
„Leg dich mal zurück, ich möchte mir das lieber angucken."

Nachdem Tabea jedoch nichts finden konnte, was auffällig ist, hat sie mir ein leichtes Schmerzmittel gegeben und ist wieder gegangen.
Phil hat sich erneut versichert, dass alles gut ist, dann hat er das Licht ausgeschaltet und sich wieder hingelegt.
„Phil?"
„Ich bin wach."
„Weißt du, was mit Alex und Alicia ist? Sind die ein Paar oder was ist das jetzt zwischen denen?"
Phil antwortet nicht sofort, aber ich höre, wie er öfter zu einer Antwort ansetzen will, es dann aber doch lässt.
„Du musst mir nichts sagen, wenn er das nicht will oder wenn du das nicht weißt. Also letzteres ist ja logisch, weil was..." 
„Stopp", unterbricht er mich leicht lachend. „Alex hat mir gesagt, dass sie sich wirklich sehr gut verstehen und mögen. Aber er meinte auch, dass er irgendwie nicht so richtig damit klarkommt, dass sie schon so eine verhältnismäßig alte Tochter hat. Wenn du meine Meinung wissen willst, kann ich dir sagen, dass ich eher davon ausgehe, dass das nichts mit denen wird. Nichts Ernsthaftes."
Ich stutze. Damit hätte ich nicht gerechnet. „Schade. Ich hätte ihm das gegönnt."
„Ich ihm auch. Aber jetzt schlaf langsam mal, dein Körper braucht Ruhe."
„Ai ai Captain." Ich schließe meine Augen. Ändert sich nicht viel, war vorher auch schon dunkel.
„Du mich auch. Gute Nacht, schlaf schön."

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now