125 - Späte Erkenntnisse

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Ich atme tief durch. Mein Atem zittert, als würde ich über Pflastersteine fahren. „Kannst du bitte gehen? Ich habe keinen Bedarf, mit dir über etwas zu reden. Das hat sich zwischen uns doch schon deutlich geklärt."
Ein Bild schiebt sich in den Vordergrund. Aus der hintersten Ecke kriecht es hervor und tanzt vor mir herum. Die Situation der Abschlussfeier. Verzweifelt kneife ich meine Augen zusammen. Die Tränen, die mir schon vorher in den Augen brannten, werden dadurch nur nach draußen befördert.
„Alles okay mit dir?", fragt Tim vorsichtig.
Ich presse meine Lippen aufeinander, halte die Luft an. Ich könnte schreien.
Und plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner.
Panisch ziehe ich sie weg, reiße meine Augen auf und starre in sein Gesicht. „Verschwinde. Bitte", flüstere ich. Meine Stimme hat die nicht wirklich vorhandene Festigkeit eines wehenden Grashalms nun auch noch verloren. Es klingt eher nach einer Pusteblume, die von einem heftigen Windstoß überrascht und in alle Richtungen davongetragen wurde.

„Josefine. Weißt du, ich habe noch nie etwas so sehr bereut. Bitte, lass uns doch noch mal ordentlich über alles reden", bleibt er eisern dabei. Ignoriert meine Bitte, einfach zu gehen.
„Nein!", kommt es lauter als beabsichtigt von mir. „Verlasse sofort dieses Zimmer!", schiebe ich in derselben Lautstärke hinterher. Wenn ich einmal Fahrt aufgenommen habe, gibt es kein Halten mehr. Aus diesem Grund sprudelt es einfach so aus mir heraus. „Du hättest vorher über alles nachdenken sollen, verstehst du? Es ist zu spät. Das ist alles passiert, man kann es nicht rückgängig machen, so ist es. Aber du kannst vergessen, dass ich dir verzeihe. Lass mich bitte einfach in Ruhe, danke."
„Aber..."
Mein Kopf fährt energisch in seine Richtung und starrt ihn fassungslos an. „Sag mal, bist du irgendwie schwer von Begriff? Brauchst du das noch schriftlich oder so? Raus!"
Wäre ich nicht so schwach, könnte ich wetten, dass ich schon längst aus dem Bett gesprungen wäre und ihn hier rausgezerrt hätte. Aber leider bin ich dazu gar nicht in der Lage. Und ehe ich irgendeine offene Naht riskiere, benutze ich lieber meine Stimme.

Überraschend räuspert sich jemand im Hintergrund. Seit wann ist Alex im Zimmer? „Es wäre wohl wirklich besser, wenn du jetzt gehst. Das sieht nicht so aus, als würde", Alex guckt zwischen uns hin und her, „noch etwas daraus werden."
Er schenkt Tim ein mattes Lächeln und deutet auf die Tür. Mit hängendem Kopf tut Tim nun wirklich, was Alex gesagt hat.
Kaum höre ich das klickende Schloss, scheint das Knäuel aus Gefühlen zu explodieren und alle nur erdenklichen Emotionen durch meinen Körper zu schwemmen.
Alex probiert mit allen möglichen Mitteln, mich irgendwie zu beruhigen, doch es fühlt sich an, als würde gerade eine Flut an Gefühlen ausbrechen, die sich schon über einen längeren Zeitraum angestaut haben. Ich dachte schon lange, dass er fast aus meinem Kopf verbannt ist. Das Schlimmste hinter mir liegt. Anscheinend habe ich es durch fehlende Konfrontation lediglich verdrängt.
„Pscht, Fine, du musst dich beruhigen. Das ist jetzt nicht gut für dich", redet Alex immer weiter, während er mich in seinen Armen hält.
Doch mein Körper, der gerade von Schluchzern durchzuckt wird, kann gerade nicht anders.

Nach einer gefühlten Unendlichkeit, in der ich Alex' Schulter durchnässt und ihm seine Nerven geraubt habe, komme ich allmählich zur Ruhe.
Mir geistern mehrere Fragen im Kopf umher, die nur so auf eine Antwort warten. „Was macht er hier?"
Alex holt tief Luft. „Ein FSJ. Und er war eben auf der HNO. Wir wollten dir nichts davon erzählen, weil wir Angst hatten, dass du diese Klinik dann meiden würdest. Und wir wissen ja, wie du auf fremde Hilfe reagierst. Dementsprechend wäre das nicht ganz so gut gelaufen, wenn etwas passiert wäre."
Langsam schüttele ich den Kopf. Es ist, als würde ich bei der kleinsten zu schnellen Bewegung meine Fassung erneut verlieren. „Und daraus habt ihr so ein Drama gemacht? Das war wirklich ziemlich übertrieben."
„Na ja... wir hatten halt irgendwie Angst, dass sich eure Wege mal kreuzen. Hat man ja gesehen, was daraus entsteht... ist jetzt nicht ganz so harmonisch gelaufen, ne?", stammelt Alex irgendwie zusammen.
Eigentlich will ich darüber gar nicht mehr reden.
„Harmonisch stelle ich mir in der Tat anders vor", brumme ich und probiere krampfhaft, Tims Bild aus meinem Schädel zu schlagen.
Seine Worte hallen in meinem leeren Kopf nach, füllen diese Stille. Sie scheinen beinahe glücklich auf und ab zu springen. Um mir selbst etwas vorzuspielen.
Er möchte sich entschuldigen, ihm tut es leid. Das ist doch schön, oder nicht? Er bereut es.
Das kann mir aber egal sein. So wie es mir egal ist, welche Zahnpasta Alex benutzt.
Aber dir ist es verdammt nochmal nicht egal.
Es kann nicht sein, dass ich einknicke. Wobei es ziemlich gefährlich ist - jetzt, wo ich weiß, dass ich ihn jederzeit finden könnte.
„Hör auf, du blutest schon", schneidet Alex mir plötzlich in meine Gedanken und hält mir ein Taschentuch entgegen.
Ziemlich durcheinander gucke ich ihn an.
„Deine Lippe. Du beißt dir da so drauf herum, dass du schon blutest", erklärt er und wackelt mit dem Taschentuch, damit ich ihm das abnehme.
Doch statt mit dem Taschentuch an meine Lippe zu gehen, fahre ich mir mit einem Finger darüber. Und Tatsächlich - ich blute.
Ist es schon so weit gekommen, dass ich das nicht merke?

Drei Tage nach der OP darf ich schon wieder nach Hause, muss danach jedoch noch zweimal zur Nachsorge, zu der ich einfach mit Paula zur Klinik komme.

Tag für Tag schließe ich mehr mit Tim ab. Dieses Gespräch im Krankenhaus hat mir gezeigt, dass das alles nichts mehr bringt.

Turnen kann ich natürlich auch noch eine Zeit lang vergessen - Schonung ist angesagt. Was muss, das muss.

Die Zeit fliegt an mir vorbei. Für die Schule mache ich nicht wirklich viel, dafür kümmere ich mich immer mehr um die Freundschaft zwischen Anni und mir. Mir wurde in der Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt mal wieder bewusst, wie oft ich sie doch wegen Tim vernachlässigt habe. Das schlechte Gewissen kam erneut hoch, auch wenn das schon wieder eine Weile her ist.

***

Der eisige Wind veranlasst mich dazu, meinen Schal noch etwas fester zu ziehen. Auch wenn ich ersticken würde, weil ich mich damit erdrosselt habe, wäre mir wenigstens warm gewesen.
Wie viel Grad sind es? Vielleicht zwei? Und dann dieser Wind dazu, der mir beinahe ins Gesicht schneidet.
Das alles schon Mitte November. Na viel Spaß im Winter.

Die warme Luft der Wache scheint mich zu erschlagen. Hektisch reiße ich mir meinen Schal vom Hals und schnappe nach Luft. Meine Jacke ist im nächsten Moment ebenfalls ausgezogen.
„Wer hat hier die Heizung auf fünf gedreht? Man kanns auch übertreiben", murmele ich genervt.
Neben mir höre ich ein leichtes Lachen. „Hitzewallungen? Sah gerade ziemlich danach aus."
Ich drehe mich zur Seite und gucke Oli schief an. „Ist dir nicht heiß?"
Er schiebt seine Unterlippe vor. „Nö. War auch länger nicht mehr draußen, ich habe mich daran gewöhnt."
„Ah, bin gleich bei dir, wir können sofort abhauen!", ruft Paula da von weiter hinten und huscht über den Gang. Sie muss sich anscheinend noch umziehen.
„Und ihr macht euch jetzt einen schönen Nachmittag?", fragt Oli interessiert.
Ich nicke. „Muss ein Geschenk für Anni holen. Sie hat nächste Woche Geburtstag."
Oli seufzt. „Ihr werdet so schnell groß."
„Da hast du recht. Schrecklich." Papa taucht hinter ihm auf und haut ihm auf die Schulter.
„Hast du jetzt nicht auch Feierabend?" Meine Stirn legt sich in Falten. Immerhin steht er hier, statt sich umzuziehen.
„Jacky ist krank geworden und ich muss auf die Vertretung warten. Wenn überhaupt eine gefunden wird", teilt Papa mir mit und grinst Oli an.
„Yippie, noch länger mit dir in einer Karre", brummt Oli vorerst ernst, doch dann überkommt auch ihn ein Grinsen.
„Wir können", flötet Paula, ehe sie überhaupt richtig bei mir ist.
Schnell ziehe ich mich wieder richtig an, um die Wärme aus der Wache mitnehmen zu können. Paulas Auto wird auch eiskalt sein.
„Viel Spaß, man sieht sich." Papa winkt uns kurz zu, ehe er lächelnd in den Tiefen der Wache verschwindet. Er scheint ziemlich viel Spaß bei der Arbeit zu haben.
Oli trottet ihm da eher weniger motiviert hinterher.

Mit Paulas Hilfe habe ich schnell ein Geschenk zusammen.
Wobei das auch nicht ganz so schwer war - Anni hat sich neue Ohrringe gewünscht. Da habe ich nur noch Paulas Beratung gebraucht.
Jetzt kann der Geburtstag kommen.

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Es ist eher ein Füllkapitel, aber im nächsten geht es wieder los :) Deswegen war auch ein ordentlicher Zeitsprung nötig.

Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now