109 - Eine kleine Lüge hier, eine große da

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Die ganze Trauer bezüglich Tim ist über meinem Kopf zusammengebrochen und ergießt sich in Sturzbächen auf mich, die nicht enden wollen.
Als wäre all das auf der Party und der Tag darauf erst gestern passiert. In der Schule mache ich kaum noch mit. Hänge nur meinen Gedanken hinterher, schlafe manchmal fast ein, weil ich am Abend davor wachgelegen und mich allein gefühlt habe. Dabei bin ich nicht allein, ich bin das genaue Gegenteil davon. 
Rund um die Uhr sind alle mit ihrer vollen Aufmerksamkeit bei mir, um mich irgendwie auf andere Gedanken zu bringen. Es nervt mich auf der einen Seite, möchte ich manchmal doch einfach nur etwas Ruhe. Jedoch fühle ich mich auf der anderen Seite sofort verfolgt, wenn ich mal allein bin. 
Auch die Nacht mit der Verfolgung ist nicht einfach spurenlos an mir vorbeigezogen. Nein, ich kann bei Dämmerung kaum einen Fuß auf die Straße setzen, ohne ein rasendes Herz zu bekommen. Und wenn keiner in meiner Nähe ist, der mir zur Not helfen könnte, tragen mich meine Beine so schnell, dass sie sich regelmäßig selbst ineinander verfangen.

Vor zwei Wochen war dieser erste Schultag, diese eine Nacht. Und erst gestern ist eine neue Schürfwunde an meiner Hand dazugekommen, weil ich über meine eigenen Beine gestolpert bin.
Diese Erkenntnis, dass mein Unterbewusstsein anscheinend wirklich daran geglaubt hat, dass aus Tim und mir doch nochmal etwas werden könnte, ist erschreckend. Es ist erschreckend, wie sehr man sich unbewusst selbst beeinflusst.
Die Trennung war nicht so schlimm, als sie geschehen ist. Sie ist erst jetzt schlimm, wo sie mir direkt in die Augen guckt und mich hämisch angrinst.
Dann wiederum könnte ich mich selbst auslachen. Ich bin verdammte 16 Jahre alt. Dass diese Beziehung für immer gehalten hätte, wäre unwahrscheinlich gewesen.
Es gibt so viele Seiten, so viele Perspektiven, aus denen man diese Situation sehen kann, die ich erst mal kennenlernen muss. Und vielleicht kann ich dann auch damit abschließen. Hoffentlich.

„Du siehst aus, als hättest du gekifft", kommt es aus der Ecke der Couch.
Mein Blick hebt sich nur das kleinste Bisschen und erkennt Toni. Der ist schon wieder hier? Ich hätte fast vergessen können, wie es ist, einen Bruder zu haben. So wenig war er durch Jamira zu Hause. Und jetzt hockt er seit einer Woche hier herum, wenn er nicht in der Berufsschule ist. Komisch.
Doch sofort hebt sich mein Blick richtig. „Du siehst nicht anders aus. Wie viel Gramm waren es bei dir?"
Ein schwaches Lächeln überkommt seine Lippen. Auch wenn es irgendwie missglückt aussieht. „Hab mein ganzes Geld dafür auf den Kopf gekloppt, weißt du?"
„Nee, jetzt ehrlich. Was ist los bei dir?", frage ich und vergesse für diesen kurzen Moment meine eigenen Sorgen. Das ist wie Geburtstag, Weihnachten, Ostern und Neujahr zusammen, wenn man sonst 24 Stunden, sieben Tage die Woche die gleichen Gedanken hat.
Ich lasse mich neben ihm nieder.
„Ach, ist nicht so...", beginnt er, wird aber von der aufgehenden Haustür unterbrochen.
„Fine, bin wieder da! Wir können los!", ruft Papa aus dem Flur.
Ich stöhne genervt auf. „Die meinen das ja alles nur gut, checken aber nicht, dass das kaum etwas bringt", murmele ich.
Tonis Blick sieht plötzlich verbittert aus. Seine Augen glänzen.
„Fine? Paula wartet schon im Auto!", drängelt Papa.
„Wir reden nachher noch, okay? Ich habe immer ein offenes Ohr für dich", sage ich schnell zu Toni und stehe wieder auf.
„Ach, ist doch nicht wichtig", winkt er ab. Seine Stimme ist kurz vor dem Brechen.
Und ich verlasse das Haus mit keinem guten Gefühl. Etwas ist mit ihm, eindeutig.

Zu einem Gespräch mit Toni kommt es jedoch nicht mehr.
Paula, Papa und ich kommen erst gegen 20 Uhr von unserem Ausflug wieder. Wir waren im Schwimmbad. Obwohl es Montag ist und ich von der Schule vorhin schon komplett fertig war. Widerspruch ist bei denen gerade zwecklos. Wenn sie denken, dass mir das hilft, dann bitte.
Toni ist nicht mehr zu Hause, wie Alex berichtet. Also ist er wahrscheinlich wieder bei Jamira. Vielleicht kann ich ja morgen mit ihm reden.


Papa scheucht mich aus dem Bett. „In zehn Minuten musst du los!", schreit er erneut durchs Haus, während er die Treppe runterrennt. Kurz darauf fällt die Haustür laut ins Schloss.

Zehn Minuten? Skeptisch werfe ich einen Blick auf die Wanduhr über meiner Tür. Stimmt. Aber das ist mir ziemlich egal. Immerhin hat er mich auch erst jetzt geweckt. Oder besser gesagt habe ich ihn ignoriert.
Ich bin die Ruhe in Person, während ich mir Kleidung suche und im Badezimmer verschwinde. Paula und Phil haben frei und schlafen noch, somit bekommen sie nicht mit, wenn ich zu spät losgehe.

Mein Verhalten ist selbst für mich unerklärlich. Als hätte ich alle Zeit der Welt, gehe ich entspannt unter die Dusche und genieße das warme Wasser am Morgen. So will man doch in den Tag starten.
Nach bestimmt zwanzig Minuten, in denen ich einfach nur das Wasser genossen habe, dusche ich mich kurz mit kaltem Wasser ab, um wach zu werden, ehe ich mich abtrockne und anziehe.
Mein Handy zeigt mir 7:55 Uhr. In fünf Minuten beginnt der erste Block. Passiert. Muss ja keiner erfahren.
Noch immer die Ruhe selbst, kämme ich mir meine Haare und binde sie zu einem hohen Pferdeschwanz.
Das bin nicht ich, die im Spiegel zurückblickt. Meine Augen sind rot unterlaufen, meine Mundwinkel hängen unten und scheinen vom Boden angezogen zu werden. Ich möchte, dass diese Zeit einfach schnell vergeht.

Die Badezimmertür knarrt etwas beim Öffnen.
„Aha, lag ich doch richtig."
Ich schreie auf und springe zurück. „Phil! Was fällt dir ein?"
Ich lege meine Hand auf die Gegend meines Herzens. Es hämmert wie verrückt.
„Wieso bist du noch hier?" Seine Augen mustern mich streng. Phil und streng. Passt nicht zu ihm.
„Weil ... ich hab verschlafen?" Ich lache schief auf.
„Josefine, lüg mich nicht an. Du hast gerade bestimmt eine halbe Stunde im Bad verbracht."
„Ich ... schön, ja, das war mit Absicht." Ich quetsche mich an ihm vorbei und hole meine Schultasche aus meinem Zimmer.
„Warte an meinem Auto auf mich, ich bringe dich. Sonst kommst du noch später. Und nach der Schule reden wir mal darüber."
Ein stummes Nicken zeigt ihm, dass ich ihn verstanden habe.
Da ist jetzt wohl jemand sauer auf mich.

„Hey, komm mal mit."
Ich werde an meinem Arm in die hinterste Ecke des Schulhofs gezogen.
„Lass mich los, Nils. Was willst du?" Ich probiere, meinen Arm aus seinem Griff zu lösen, doch er ist stärker. „Das tut langsam weh."
Endlich lässt er von mir ab.
„Hier hätte ich auch ohne deiner halben Entführung landen können", schnaube ich und reibe mir meinen rechten Oberarm. „Was ist? Ich möchte nach Hause." Genervt gucke ich ihn an. Es ist nach drei, wir haben etwas überzogen und ich hätte langsam mal Lust auf mein Bett. Bevor Papa oder ein anderer aus dem Haus wieder auf eine ihrer schrägen Ideen kommt und ich in der Weltgeschichte herumgurke. 
„Ich hab was für dich", sagt er mit gesenkter Stimme.
Ich schnalze genervt mit der Zunge. Nils ist komisch, äußerst komisch. Er ist ein totaler Musterschüler und zu jedem Lehrer nett, man könnte fast einschleimerisch sagen, doch wenn es um Mädchen geht, ist er der Draufgänger schlechthin.
Ich will ja nichts sagen, aber Mia ist ihm in den zwei Wochen schon verfallen. Mia diese falsche Schlange.
„Geht das auch schneller?", dränge ich ihn. Kein Bedarf, meine Zeit mit ihm zu vergeuden.
Er zieht etwas aus seiner Hosentasche.
Meine Augenbrauen schnellen in die Höhe. „Was wird das?" Bitte nicht das, was es schon in Italien wurde. 
„Schenk ich dir. Musst du mal ausprobieren, das hilft gegen deine Trauer. Davon bist du gut drauf, glaub mir." Er lässt ein Tütchen mit Gras vor meinen Augen baumeln. „Du musst dafür nichts bezahlen. Sieh es wie Medizin."
„Ganz sicher nicht. Du bist doch bekloppt. Wenn ich jetzt bitten darf." Ich will an ihm vorbei, doch so schnell gibt er nicht auf.
„Wir können auch zusammen kiffen, ist für dich zum ersten Mal vielleicht leichter."
„Nein heißt nein. Und jetzt pack das weg." Ich werde nervös. Hinter ihm kommt eine Lehrerin. Frau Meier, um genau zu sein.
„Komm schon, Josefine."
„Pack das jetzt weg!", fauche ich wütend. Er ist zu doof, meinen Blick zu deuten. Warum hätte er das auch nicht außerhalb der Schule machen können?

Und da ist Frau Meier hinter Nils angekommen. Sie räuspert sich.
Und Nils? Der drückt mir das Tütchen in die Hand.
„Frau Meier, gut, dass Sie da sind. Josefine wollte mir doch gerade allen Ernstes Gras verticken", empört er sich.
Meine Kinnlade fällt gen Boden. Bitte was?

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt