118 - Der pure Albtraum

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Die Minuten ziehen sich wie Kaugummi. Paula sagt nicht viel, nur immer mal wieder zustimmende Worte, hier ein 'okay', da ein 'ja'. Toni wippt nervös mit seinem Bein, ich bin wie betäubt.
„Okay, danke. Bis gleich... Ich dich auch, tschüss." Mit einem tiefen Atemzug legt sie ihr Handy wieder zur Seite.
„Und?", fragt Toni sofort. Ich starre Paula einfach an, will etwas aus ihrem Gesicht lesen können. Doch nichts, keine Mimik, die mir etwas verraten könnte.
„Er ist aus dem OP und lebt", sagt sie leise.
Der Brocken auf meinem Herzen bröckelt. Er bröckelt ganz leicht, lässt mich kaum Erleichterung spüren. Jeder sieht sofort, dass das bis jetzt nur die halbe Wahrheit war.
„Aber?", hake ich mit einer Angst in der Stimme nach, die ich noch nie in diesem Ausmaß verspürt habe.
Alle Ängste waren bis jetzt anders. Die Angst, als ich mit den gebrochenen Rippen und meiner Atemnot vor Alex lag. In dem Moment dachte ich, dass ich sterben würde. Es ist nicht mit jetzt vergleichbar.
Die Angst im Treppenhaus in der Klinik. Mir ging durch den Kopf, dass das ganz doll schiefgeht. Es ist nicht mit jetzt vergleichbar.
Keine Angst hat mir jemals so scharf ins Herz geschnitten, wie sie es jetzt tut.
„Sie haben ihn ins künstliche Koma versetzt. Noch ist nichts wirklich vorhersehbar", murmelt sie und fährt sich durch die Haare.
Das kann alles bedeuten. Das kann alle Wendungen nehmen, die man sich ausmalen kann. Kann, aber man möchte nicht.
Warum kann man nicht einfach eine klare Prognose stellen?
Paula greift nach meiner Hand. „Es wird alles wieder gut, macht euch keine Sorgen."
Macht euch keine Sorgen. Das klingt nach einer Lappalie.
Doch leider überbringt die Ärztin in Paula gerade ganz andere Zeichen.

Sie haben mir freigestellt, ob ich zur Schule möchte. Es könnte ja eine gewisse Ablenkung sein, andererseits wäre meine Konzentration überall außer beim Unterricht.
Ich stehe zur normalen Zeit auf, als würde ich zur Schule gehen.
Meine Augenringe sind nicht die einzigen Spuren dieser unruhigen Nacht, in der ich kaum geschlafen habe. Wirr hängen meine Haare über den Schultern, mein Haargummi klammert sich verzweifelt in die letzten Zentimeter einer einzelnen Strähne. Meine Haut ist blass, lässt die Augenringe besonders hervorstechen.
Es ist mir egal, dass ich aussehe, als wäre ich gerade von den Toten auferstanden.
Es ist mir egal, dass ich mich miserabel, zerquetscht, überfahren fühle.
Mir ist alles egal, solange Papa nicht über den Berg ist.

Zur gleichen Zeit wie jeden Morgen verlasse ich das Haus, schlage aber die Richtung zur Klinik ein. Ich habe den anderen einen Zettel hinterlassen. Nicht, dass sie sich noch Sorgen um mich machen, wenn sie meine Schultasche sehen, ich aber nicht in Sichtweite bin. Eine Sorge, die wohl größte Sorge aller Zeiten, reicht aus.
Meine Gedanken flimmern im Kopf, sind nicht wirklich präsent, aber auch nicht verschwunden. Ob sie sich so gefühlt haben, als ich im künstlichen Koma lag?
Vielleicht kann ich allmählich verstehen, weshalb sie sich immer sofort sorgen. Weil sie mich nicht in solch einer Situation haben wollen. Sie muss nicht mal durch einen Unfall, einen Angriff ausgelöst werden. Sie kann auch aus ganz vielen anderen Gründen entstehen.

„Josefine? Was machst du denn schon hier?" Schwester Birgit blinzelt mich müde an.
Anscheinend hatte nicht nur ich eine anstrengende Nacht.
„Ich möchte zu Papa", sage ich entschlossen. Dabei verdränge ich die Bilder, die sich in meinem Kopf anbahnen. Will ich Papa wirklich in diesem Zustand sehen?
Ein langsames Nicken zeigt mir, dass sie versteht. Was soll man daran auch nicht verstehen?
„Na komm, ich nehme dich mit." Zwei Hände legen sich unerwartet auf meine Schultern, die Stimme lässt mich erschrocken herumfahren.
„Was machst du denn hier?" Ich lege meinen Kopf schief und blicke zu Oli, der seine Hände noch immer auf meinen Schultern ruhen hat.
„Ich habe jetzt Dienst auf der Intensiv?"
War vielleicht eine dumme Frage von mir, okay.
„Ich habe schon gehört, was passiert ist. Und..." Oli atmet tief durch. „Es wird kein leichter Anblick für dich sein. Möchtest du das wirklich?"
Empörung sprudelt in mir auf. „Er ist mein Vater! Ich muss doch jetzt für ihn da sein, so wie er immer für mich da ist!"
„Fine, ruhig. Wenn es dir zu viel wird, kannst du sofort zu mir kommen, okay? Ich gehe auch am Anfang mit dir zusammen rein."
Tränen sammeln sich in meinen Augen, die ich wegblinzeln will. Mit Erfolg, wie ich überrascht feststellen darf.

„Du bist dir wirklich..."
„Oli, ja! Wie oft noch?", fauche ich schon beinahe genervt. Wobei das wohl eher von meiner Verzweiflung kommt.
„Okay, dann mal auf."
Behutsam drückt er die Klinke zum Zimmer runter und öffnet die Tür lautlos.
Mein Herz setzt aus, als ich Papa da liegen sehe. Es ist, als würde sich ein riesiges Messer in dieses bohren. Schmerzhaft langsam bohren, statt einen schnellen Stich zu veranstalten.
Die vorhin noch erfolgreich unterdrückten Tränen haben nun ihren Erfolg.
Oli reicht mir stumm ein Taschentuch.
„Möchtest du doch wieder gehen?"
Ich schüttele ohne zu zögern den Kopf. „Ich möchte etwas bei ihm bleiben."
Oli nickt verständnisvoll, ehe er sich die Geräte anguckt, an denen Papa hängt. Er sieht von den Werten nicht direkt überzeugt aus, aber Unruhe strahlt er auch nicht aus.
Mein Blick kann sich nicht von diesem schrecklichen Bild lösen. Es ist wie der schlimmste Albtraum meines Lebens, aus dem ich nicht mehr aufwache. Weil er wahr ist. Verdammt wahr.
Unbemerkt hat Oli mir einen Stuhl ans Bett geschoben, auf den er mich nun drückt.
Vorsichtig greife ich nach Papas Hand.
„Ich muss dann mal weiter. Bleib so lange du willst." Er streicht mir kurz durch die Haare, ehe er das Zimmer verlässt.
Plötzlich fühlt sich das Zimmer so leer an, so leblos.
Bitte lass das alles ein gutes Ende nehmen.

Meine Kräfte haben aufgegeben. Allmählich werden meine Lider schwerer, und während ich noch Papas Hand in meiner habe, werde ich in einen leichten Schlaf gezogen.

Orientierungslos gucke ich mich um.
Ich bin bei Papa und muss wohl eingeschlafen sein.
„Ausgeschlafen?"
Ich schrecke in eine ordentliche Sitzposition und zische auf. Mein Rücken, aua.
Alex grinst mich schief an, auch wenn sein Grinsen traurig ist. „Du hast jetzt locker drei Stunden geschlafen."
„Oh", kommt es von mir. Ich reibe mir über die Augen. Erholt bin ich trotzdem nicht.
„Seit wann bist du denn da?", will ich wissen.
„Habe deinen Zettel gefunden und bin dann gekommen. Vor drei Stunden."
Ich reiße meine Augen auf. „Vor drei Stunden?"
Er nickt, dann wandert sein Blick zu Papa. „Seine Werte haben sich leicht verbessert."
„Was bedeutet das genau?" Ich weiß nicht, warum ich frage. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch etwas hören will, wenn es keine Besserung verspricht.
„Er ist noch nicht über den Berg, aber es sieht auch nicht mehr ganz so düster aus wie gestern", erklärt Alex und guckt mir dabei in die Augen.
Das war pure Wahrheit, keine versuchte Aufmunterung.
Langsam erhebt er sich, wobei die Knochen seiner Beine knacken. „Da habe ich wohl ein bisschen lang gesessen. Na komm, lass uns nach Hause gehen, da kannst du nochmal richtig schlafen."
Auch bei mir knacken gefühlt alle Knochen, als ich aufstehe. Mir tut alles weh. Nicht nur vom Training gestern, auch von meinem kleinen Nickerchen hier auf einem sehr komfortablen Stuhl.

Vor dem Zimmer falle ich Alex in die Arme. „Warum ist es gerade so schrecklich. Ich habe das Gefühl, ich würde jeden ins Unglück stürzen." Einzelne Tränen laufen mir über die Wangen und verfangen sich in Alex' Shirt.
„Du kannst dafür doch nichts. Es wird wieder", flüstert er und drückt mich noch etwas fester an sich.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now