59 - Durchwachsene Nacht

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Frederik hat entschlossen, mich nach Hause zu lassen. Sein Glück, ich hätte nicht garantieren können, dass ich Ruhe bewahre, hätte er anders entschieden.
Anni wurde gleich weiter in den OP gebracht, ihre Nase muss dort gerichtet werden. Jacky, Dustin und Phil sind auf ein Zimmer gekommen und müssen 24 Stunden beobachtet werden. Ich glaube, man kann sich vorstellen, wie das mit Phil ungefähr abgelaufen ist:
„Nee Frederik, ich bleibe doch nicht hier. Wie sehe ich denn aus?", protestierte Phil lautstark im Empfangsbereich der Notaufnahme. Drauf und dran, einfach aus der Klinik zu stürmen.
„Du siehst momentan aus wie ein unverantwortlicher Arzt. Wie ein Kind", konterte Frederik kühl.
„Siehst du, ich bin Arzt. Da kann ich meinen Zustand gut selbst einschätzen. Also dann, man sieht sich." Phil drehte sich um und wollte die Notaufnahme verlassen. Papa, Frederik und ich standen mitten im Wartebereich und starrten ihn einfach an. Was ist in ihn gefahren?
Doch so leicht kam uns Phil nicht davon. Die Tür öffnete sich, bevor Phil überhaupt einen Knopf gedrückt hatte. Geradewegs rannte dieser in Alex rein, der gekommen ist, um Papa und mich abzuholen.
„Kumpel, wo willst du hin?", fragte Alex und hielt ihn fest.
„Nach Hause? Mir geht's super."
„Franco hat mich schon über deinen Zustand in Kenntnis gesetzt. Du gehst jetzt sofort zurück."
„Außerdem musst du noch einen Wisch unterschreiben, wenn du gehen willst. Das weißt du. Und irgendwie erkenne ich dich gar nicht wieder. Mit Wesensveränderungen ist nicht zu spaßen", mischte sich Frederik mit ein.
„Ihr geht mir alle so auf die Nerven", brummte Phil geschlagen und ließ sich auf ein Zimmer bringen.
Geht doch. Da sieht man, dass Ärzte bekanntlich sie schlimmsten Patienten sind.

Schnell finde ich mich zu Hause wieder. Papa und ich machen es uns erst mal auf der Couch gemütlich, um das alles wenigstens ansatzweise sacken lassen zu können. Klar, manche Momente hatten so ihre Situationskomik, dennoch möchte ich das gerade erlebte nicht gern erneut durchleben müssen. Zumal ich noch immer nicht ganz wieder auf den Beinen bin, fühle ich mich noch etwas schlapp.
Ich probiere, meine Gedanken mit einem Buch auf andere Dinge zu lenken, doch leider ist dieser Unfall viel zu präsent in meinem Kopf, um ihn einfach mal so überschreiben zu können.

Am Abend erhalte ich eine Nachricht von Anni. Eine Sprachnachricht. Abgesehen davon, dass sie sich noch total benommen von der Narkose anhört, hört man, dass sie an ihrer Nase operiert wurde. Wäre ja auch äußerst komisch, wenn nicht.
Glücklicherweise hat sie alles gut überstanden und ihr geht es den Umständen entsprechend. Auch mit den anderen dreien ist alles gut.
Paula wird von Phil auf Trab gehalten. Der hört gar nicht mehr auf, Paula mit Nachrichten zuzuschütten, wie sie mir berichtet, als ich mich auch mal nach ihr erkundige. Oh Mann, Phil ist aber auch ein Dickkopf. Er soll sich permanent darüber aufregen, dass er im Krankenhaus liegt.

„Josefine, kommst du essen?", fragt Alex irgendwann ins Wohnzimmer.
Ich seufze. Hunger habe ich ja nicht gerade.
Mit schweren Schritten schlurfe ich an den Esstisch und lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Ich spüre die leicht besorgten Blicke von Papa und Alex. Toni kümmert sich gerade nur um sein Stück Fleisch. Guten Hunger.
„Isst du bitte was?", sagt Alex nach einer Weile, in der ich nur still beobachtet wurde.
Ich zucke lustlos mit den Schultern. „Keinen Hunger", murmele ich.
„Du hast heute Morgen das letzte Mal gegessen und bist vorhin fast zusammengeklappt. Du isst jetzt was", kommt es auch von Papa mahnend.
Ich werfe einen Blick auf den Salat, den Alex gemacht hat. Das Bild der zerstörten Beifahrerseite drängt sich in den Vordergrund. Ich schüttele mich kurz, in der Hoffnung, es zu verdrängen. Leider nur mit mäßigem Erfolg.
Ich reiße mich zusammen und mache mir eine kleine Portion auf meinen Teller.
„Das ist hoffentlich nicht dein Ernst." Alex blickt kopfschüttelnd auf meinen Teller.
Ich lasse das einfach mal unkommentiert, nehme meine Gabel in die Hand und spieße ein Stück Paprika auf. Interessiert mustere ich das rote Stückchen. Allein beim Gedanken, dass ich das jetzt esse, bildet sich eine Gänsehaut. Beim besten Willen, ich kriege nichts runter, wenn ich dieses Bild der Beifahrerseite in meinem Kopf habe. Und von Phil, wie er bewusstlos im RTW liegt. Immerhin können bei ihm noch immer Komplikationen entstehen, nicht umsonst muss er überwacht werden.
„Josefine, du musst was essen. Wenigstens das, was du auf dem Teller hast. Und das ist nicht gerade viel." Papa guckt mich mit einem Blick an, in dem so viele verschiedene Emotionen liegen. Krass, wie viel man in einem Moment fühlen kann.
Anni kommt zu meiner unschönen Bildersammlung im Kopf dazu. Wie sie an die Decke des RTWs starrt, als wäre sie nicht sie selbst. Wie sie bewusstlos vor der Schule liegt und nicht reagiert. Was wäre, wenn ich sie im RTW begleitet hätte? Wenn ich wie üblich auf dem Beifahrersitz gesessen hätte, und nicht mit Papa gefahren wäre?
„Ich kann nichts essen", flüstere ich, lege meine Gabel mit Druck ab und springe auf. Mein Weg führt mich in mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett schmeiße. Ich möchte heulen. Und schlafen. Am besten beides zur gleichen Zeit.
Ein unglaublicher Druck sammelt sich in meinen Augen, in meinem Hals, den ich durch die stummen Tränen langsam ablasse. Meine Tränen sind die pure Überforderung des Tages.

Nach einer Zeit klopft es leise an meiner Tür. Ich reagiere nicht. Nichtsdestotrotz wird sie nach wenigen Sekunden geöffnet. Ich stelle mich schlafend.
„Sie schläft. Dann reden wir morgen mit ihr", flüstert Alex. Wahrscheinlich zu Papa. Die Tür schließt sich wieder und ich richte mich in meinem Bett auf. Sie schläft. Ha, ich bezweifle, dass ich überhaupt ein Auge zumachen kann.
Es kommt, wie ich es befürchtet habe. Kaum schließe ich meine Augen, spielen sich die schrecklichen Bilder vor meinem inneren Auge ab. Immer und immer wieder. Sie lassen mich zittern, treiben mir die übelsten Gedanken ein. Ich halte das nicht aus.
Mein Handy zeigt ein Uhr durch, als ich mich aus meiner Decke schäle. Leise mache ich mich auf den Weg nach unten. Das Haus ist gespenstisch still.
Auf der Terrasse weht ein angenehmer Wind, der schon in der Nacht den gerade ankommenden Sommer begrüßt. Ich kugele mich auf der Couch der Terrasse zusammen. Genieße die Stille, die einzig allein durch das Zirpen der Grillen gestört wird, jedoch beruhigt mich dieses Geräusch gerade. Komplette Stille kann ich nicht ertragen. Nicht jetzt.
Ich atme die Luft tief ein, drehe mich auf den Rücken, starre in den Sternenhimmel. Es hat etwas so beruhigendes an sich, unglaublich.
Langsam merke ich, wie meine Lider schwerer werden. Der Sternenhimmel verkleinert sich immer mehr, bis ich endgültig in den Schlaf gezogen werde.

„Ich kann diese Kreuzung nicht leiden, wenn wir mit Sonderrechten fahren", murmelt Dustin unvermittelt und trommelt nervös auf dem Lenkrad, während er den RTW sicher auf die Mitte der Kreuzung zusteuert.
Mein Blick ist aus dem Fenster gerichtet. Aufgerissene Augen sind meine erste Reaktion.
„Dustin!", schreie ich noch, ehe ein ohrenbetäubender Knall die Umwelt zum Beben bringt und ich sofort in ein tiefes Schwarz gehüllt werde.

Unglaubliche Schmerzen verteilen sich in meinem ganzen Körper. Meine Lider flackern, bis sie sich schwach aufhalten können. Ich kann mich nicht bewegen. Meine Beine, sie sind eingeklemmt. Die Fensterscheibe zersprungen, Scherben in meinem ganzen Körper, nicht zuletzt in meinem Gesicht. Meine Atmung ist flach und unregelmäßig. Luft bekomme ich nur schwer.
„Hey, Josefine, halte durch", ruft entfernt eine bekannte Stimme. Papa.
Ich schüttele schwach den Kopf, was mir einen stechenden Schmerz vom Kopf aus verleiht. Es ist eh zu spät. Ich schlucke schwer, meine Kehle ist trocken.
„Ich kann nicht", flüstere ich schwach. Die schwarzen Punkte tanzen immer schneller, werden mehr und mehr. Meine Atmung geht schnell, flach, bringt mir kaum Luft.
„Josefine, bleib wach verdammt nochmal!"
Es geht nicht.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt