75 - Von Traurigkeit und Gewohnheit

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„Und das sieht wirklich gut aus?" Zum tausendsten Mal fragt Alex mich das nun schon.
„Ja, du hast noch nie besser ausgesehen", murmele ich und wende mich wieder dem Fernsehen zu.
„Hey, du hast gar nicht richtig geguckt!" Er schiebt sich in mein Sichtfeld und verdeckt so den Bildschirm.
„Doch, habe ich. Schon tausendmal. Alex, du hast ein schlichtes Shirt, eine ordentliche Jeans und graue Sneaker an. Was soll daran doof aussehen? Wieso bist du überhaupt so aufgeregt?"
„Bin ich doch gar nicht", lügt er und läuft nervös auf und ab, bis es an der Tür klingelt.
Alex macht vor Schreck einen Satz nach vorn. „Das ist sie. Bis dann, wir sehen uns." Damit ist er verschwunden.
„Viel Spaß!", rufe ich noch hinterher, bezweifle aber, dass er das überhaupt gehört hat. Hoffentlich wird er nicht enttäuscht.

Eine Zeit später klingelt es erneut. Diesmal ist es Amelie, die von der Schule gekommen ist. Irgendwie ein komisches Gefühl, sie direkt danach zu begrüßen. Als wäre sie meine kleine Schwester.
Ordentlich bringt sie ihren Schulranzen erst mal nach oben ins Gästezimmer. Wow, davon könnte ich mir echt mal eine Scheibe abschneiden.
„Hast du keine Hausaufgaben auf?", frage ich von unten. Ich habe an der Treppe auf sie gewartet.
Sie verdreht ihre Augen und stiefelt zurück. Tja, erwischt.

Die nächste Zeit verbringe ich damit, Rechenaufgaben bis zur Zahl fünfzehn zu rechnen. Beziehungsweise Amelie dabei zu helfen. Sie verzweifelt fast an den Aufgaben, während ich einschlafen könnte. Ach ja, wenn es so leicht bleiben würde.
„Fertig!" Voller Elan haut sie ihr Heft zu. „Spielen wir jetzt was?"
„Och Amelie, ich bin total müde. Deine Aufgaben waren so schwer, sie haben mir richtig Energie geraubt." Ich gähne gespielt, um es etwas glaubwürdiger zu machen.
Doch sie zieht nur eine Augenbraue hoch. Sag bloß, dass sie das auch schon macht.
„Ich habe doch gesehen, dass die so leicht für dich waren, dass du dabei fast eingeschlafen wärst." Sie verschränkt ihre Arme vor der Brust.
„Komm schon, lass uns ein wenig ausruhen. Und wenn Franco nachher nach Hause kommt, holt er dir mein altes Spielzeug vom Dachboden. Dann können wir da mal etwas drinnen stöbern." Es ist komisch, Papa Franco zu nennen.
„Na schön, überredet."
Entspannt aufatmend lasse ich mich nach hinten sinken. Amelie kuschelt sich nah an mich heran.
„Du, Fine?"
„Mhm?"
„Ich glaube, ich werde Mama vermissen", sagt sie leise.
„Wieso? Du kannst doch jederzeit zu ihr."
„Aber sie war böse zu Papa. Und deswegen bin ich sauer auf sie und möchte bei Papa bleiben. Aber trotzdem werde ich sie bestimmt vermissen." Sie legt eine kurze Pause ein. „Wo ist deine Mama eigentlich? Ich habe sie noch nie gesehen."
„Ich auch nicht", gebe ich meine Antwort mit kalter Stimme.
„Warum nicht? Vermisst du sie denn nicht?" Interessiert setzt Amelie sich wieder aufrecht hin und guckt mich mit schiefem Kopf an.
Ich schüttele den Kopf. „Sie hat uns verlassen, als ich noch ein Baby war. Deswegen kann ich mich gar nicht mehr an sie erinnern und somit vermisse ich auch nichts." Es fällt mir nicht schwer, darüber zu reden - wieso auch? Papa hat nie etwas über sie erzählt, und ich will auch gar nichts über sie wissen.
Amelies Stirn legt sich in Falten. „Aber dann hast du ja nur deinen Papa. Und Toni."
Abermals schüttele ich den Kopf. „Phil, Paula und Alex zähle ich auch zur Familie. Ich kenne sie fast mein ganzes Leben, bin mit ihnen aufgewachsen."
Sie legt sich wieder zurück, bettet ihren Kopf auf meine Schulter.
„Und was ist, wenn Papa nie mehr in unsere Wohnung zieht? Dann kann ich ja immer nur einen sehen." In ihrer Stimme schwingt ein leichtes Zittern mit, und allmählich spüre ich etwas nasses an meinem Shirt. Ich drehe meinen Kopf zu ihr. Sie weint.
„Hey Süße, komm mal her." Ich nehme sie fest in den Arm, trotzdem noch darauf achtend, meine linken Rippen nicht zu belasten.
Sie zieht ihre Nase hoch.
„Wenn das so sein sollte, dann werdet ihr eine Lösung finden. Außerdem wirst du dich daran gewöhnen. Irgendwann ist es ganz normal, mh?"
Ich würde ihr gern sagen, dass alles wieder gut wird, dass es nicht so weit kommt. Doch leider keimt in mir das Gefühl, dass Stephan nicht mehr eine Nacht in dieser Wohnung verbringen wird.
Bei diesen Gedanken drücke ich sie noch ein wenig fester und hoffe, so ihre Tränen trocknen zu können.
Nach ein paar Minuten hat das Schniefen aufgehört. „Möchtest du ein Eis?"
Sofort löst sie sich von mir und nickt eifrig.

Beschwingt kommt Alex ins Wohnzimmer geschneit - oder eher geschwebt. Ein fettes Grinsen ziert seine Lippen.
„Das war ein schöner Tag", flötet er und lässt sich neben mich fallen.
Ich werfe einen Blick nach draußen. Paula sitzt mit Amelie auf dem Rasen und spielt mit ihr. Gut, denn Amelie muss jetzt nicht unbedingt hören, wie glücklich Alex durch eine Frau ist.
„Scheint ja gut gelaufen zu sein", stelle ich schmunzelnd fest.
„Und wie!"
„Halt stopp, ich will auch alles hören!", ruft Phil aus der Küche und kommt mit Papa schon fast angerannt.
„Also?" Phil beißt in sein Brot, guckt Alex jedoch gespannt an.
„Sie hat so eine tolle Persönlichkeit", beginnt er das Schwärmen.
„Was hat sie für einen Beruf?", frage ich.
„Erzieherin in einer Grundschule."
„Wie alt ist sie?", kommt es von Papa.
„27."
Dann hat sie ihr Kind also mit 18 bekommen. Krass.
„Ift fie fingle?", nuschelt Phil mit vollem Mund.
„Ist sie was?" Alex zieht seine Augenbrauen zusammen und kommt Phil näher.
„Single", übersetze ich ungeduldig.
„Ach so. Ja, ist sie. Was für eine super Nachricht!"
„Ich dachte aber, ihr seid frühstücken. Wieso bist du jetzt erst gekommen?", hinterfrage ich.
„Ich war noch bei ihr in der Wohnung. Dort wohnt sie mit Paulina allein. Mit Paulinas Vater ist sie seit sechs Jahren nicht mehr zusammen." Er springt wieder auf und geht in die Küche. „Kocht heute jemand?"
Keiner antwortet.
„Okay, dann nicht." Laut den Geräuschen schmiert er sich nun auch ein Brot.
Als er wieder aus der Küche kommt, sieht er jedoch nicht mehr ganz so beschwingt aus. „Wartet mal, ist Stephan noch auf Arbeit?"
Wir nicken alle, doch dann klingelt es.
„Das wird er sein", sagt Alex und geht schon.

Stephan sieht noch schlimmer aus als gestern. Und dafür hat er allen Grund. Er blickt kurz nach draußen zu Amelie, atmet tief durch und sagt dann die neueste Nachricht. „Sie hat mit mir Schluss gemacht. Über Nachricht. Sie hat mir gesagt, dass sie eine Affäre hatte, mich nicht mehr anlügen konnte und deswegen einen Schlussstrich ziehen musste." Ohne auf etwas zu warten, verschwindet er wieder aus dem Wohnzimmer und verzieht sich ins Gästezimmer.
So kann man sich in Menschen täuschen. Ich kann für alle sprechen. Keiner hätte Steffi je so was zugetraut.
Jetzt müssen wir das nur noch Amelie überbringen.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now