117 - Blutverlust

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„Setz dich hin. Du siehst aus, als würdest du mir gleich zusammenklappen." Toni drückt mich auf den Boden, setzt sich dazu und nimmt mich fest in den Arm.
Ich würde gern fragen, was passiert ist, doch es kommt kein Wort über meine Lippen. Ich bin wie versteinert. Nicht mal zum Weinen bin ich in der Lage, zu schwer kann ich das hier gerade realisieren.
„Papa?", flüstere ich. Es kann ihm einfach nichts passiert sein. Es DARF ihm nichts passiert sein.
Toni schluckt hörbar. „Ja, Papa."

„Ich habe doch gesagt, dass ihr nicht kommen sollt." Alex springt auf und kommt auf uns zu.
Auf dem Weg zur Klinik haben es meine Tränen doch an die Luft geschafft.
Alex hat einen Verband an seinem linken Oberarm, der schon etwas durchgeblutet ist.
„Denkst du, wir können da einfach ruhig zu Hause sitzen und Däumchen drehen?", entgegnet Toni aufgebracht.
Mein Blick ist starr auf Alex' Arm gerichtet. Wenn das hier schon schlimm aussieht, wie sieht es bei Papa aus?
„Wo ist er?", frage ich leise.
„Er ist..." Seine Augen wandern unschlüssig umher, als würde er nach den richtigen Worten suchen.
„Alex, wo ist Papa?" Meine Stimme ist erschreckend rau.
„Im OP", rückt er leise mit der Sprache raus.
„Was ist passiert?" Wunderlich, woher meine Stimme so plötzlich kommt. „Und was ist mit dir passiert?"
„Das muss noch geklebt werden, aber da ist ein Notfall reingekommen", murmelt er unsicher.
Meine Augen durchbohren ihn beinahe. „Ich habe gefragt, was passiert ist. Nicht, was noch gemacht werden muss. Und wo sind Phil und Paula?"
„Die zwei sind kurz bei der Wache, sie müssen was klären. Aber sie wissen hiervon. Also deswegen sind sie auch da." Er beißt sich auf die Lippe, die schon blutet. Der muss sich die ganze Zeit darauf herumgekaut haben.
„Weich doch mal meiner Frage nicht die ganze Zeit aus!", schreie ich. Alle Gefühle scheinen mit mir durchzugehen, ich habe mich kaum noch unter Kontrolle.
Es interessiert mich nicht, dass die Notaufnahme voller Patienten ist.
„Was ist hier los?", kommt es plötzlich von einer bekannten Stimme. Charlotte erscheint hinter Alex.
„Was um alles in der Welt ist mit Papa?", frage ich zum dritten Mal. Meine Stimme ist nun alles andere als aggressiv. Tränen lassen Charlotte verwischen, mein Kopf fühlt sich an, als würden sich tausende Gedanken gegen die Wand schmeißen, obwohl er zur gleichen Zeit auch leergefegt ist.
Es geht alles und gleichzeitig auch einfach nichts in mir vor.
„Kommt mal mit nach hinten, dann kümmere ich mich um Alex und kann euch alles in Ruhe erklären", schlägt Charlotte mit einer Ruhe vor, die mich fast zum Ausrasten bringt. Wie kann sie so ruhig sein? Gut, das muss sie. Aber wie?

Alex' Arm wurde dann doch ein Fall zum Nähen.
„Franco und ich wurden im Einsatz angegriffen. Mit einem Messer", murmelt Alex, während er an die Decke starrt. „Und dabei wurde Franco so verletzt, dass er sehr viel Blut verloren hat. Der Typ ist zuerst auf ihn los, ich wollte ihm ja helfen, dabei habe ich mir eben den Schnitt am Arm geholt. Aber irgendwie war der Typ stärker. Wahrscheinlich war er in einem Ausnahmezustand." Seine Stimme zittert beim Erklären. Und nun laufen auch die ersten Tränen aus seinen Augen. Alex weint... Er weint? „Das ist doch alles meine Schuld", flüstert er mit bebender Stimme.
„Es ist nicht deine Schuld, das weißt du ganz genau", beruhigt Charlotte ihn sofort.
Die erste Reaktion meines Körpers: er schickt eine Welle an Übelkeit los. Panisch renne ich aus dem Behandlungsraum, vorbei an den ganzen wartenden Patienten und stürze auf die nächste Toilette zu.
In letzter Sekunde habe ich es in eine Kabine geschafft.
Nachdem mein Mageninhalt den Abgang gemacht hat, überrollt mich Schwindel, der mich zusammensacken lässt. Ich drücke mir meine Handballen  gegen die geschlossenen Augen, doch der Tränenfluss ist nicht mehr zu stoppen.
Was ist, wenn sie Papa nicht mehr helfen können?
Sie können. Sie müssen es können. Papa ist in den besten Händen.

„Fine, es wird alles wieder gut."
Ich zucke zusammen. Toni hat sich zu mir  auf die Fliesen der Toilettenkabine gekniet.
Von Schluchzern geschüttelt, lasse ich mich nach hinten an ihn sinken. Er umschließt meinen Oberkörper mit seinen Armen und wiegt mich langsam hin und her.
„Papa schafft das, er war schon immer stark und würde nicht aufgeben", flüstert er neben meinem Ohr.
Ich bewundere meinen großen Bruder dafür, dass er jetzt so ruhig bleiben kann. In ihm kann es doch nicht anders als bei mir aussehen. Aber er lässt es nicht raus, um mir zu helfen.
„Weißt du überhaupt, wie es um ihn steht?", bringe ich unverständlich heraus.
„Nein. Alex hat ja nicht genau gesagt, wie Papa verletzt wurde. Er scheint aber viel Blut verloren zu haben."
Einzelheiten will ich gar nicht wissen. Allein bei diesem Gedanken wird mir erneut übel, doch diesmal kann ich es unterdrücken.
„Komm, spül dir mal deinen Mund aus. Wir sollten zurück, sonst machen sie sich Sorgen." Ich glaube, ich habe bei ihm noch nie eine ruhigere Stimme gehört.
Toni zieht mich hoch, hilft mir zum Waschbecken und danach zu Alex, der wieder im Wartebereich ist.
Erst jetzt lasse ich meinen Blick an ihm herunterschweifen. Seine leuchtende Hose hat ein paar Blutanhaftungen. Papas Blut? Und die Übelkeit geht in eine neue Runde, die mich zittern lässt.
„Wir warten nur noch auf Paula und..." Alex hält inne, als die Türen der Notaufnahme aufgehen. „Ja, wenn man vom Teufel spricht." Er probiert sich an einem leichten Lächeln, doch das geht nach hinten los.
„Du siehst ja schrecklich aus", stellt Phil erschrocken fest und zieht mich in eine Umarmung.
Super, es geht hier aber nicht um mich.
„Kommt, wir fahren nach Hause", sagt Paula ruhig und greift nach meiner Hand, nachdem Phil mich wieder losgelassen hat.
„Aber ich kann doch jetzt nicht nach Hause", protestiere ich mit schwacher Stimme, kraftlos von diesem ganzen verdammten Tag. 
„Es ist spät, ihr könnt hier eh nichts machen. Sobald es neue Informationen gibt, werden Phil und Alex uns informieren."
Paula hat recht, aber andererseits... Ach, gerade bringt nichts irgendwas.

Phil und Alex bleiben in der Klinik, Paula fährt mit Toni und mir nach Hause.
Obwohl mich die Müdigkeit fest in ihren Händen hat, bin ich zum Schlafen nicht fähig. Ich wälze mich von rechts nach links, von links nach rechts.
Irgendwann halte ich es nicht mehr aus.
Leise, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, schlurfe ich durchs Haus, nachdem ich mir noch einen Pulli übergeworfen habe. Mein Ziel ist der Garten, doch ich bin anscheinend nicht die einzige Schlaflose im Haus.
Paula und Toni sitzen auf der Terrasse und unterhalten sich mit gedämpften Stimmen.
Wortlos setze ich mich zu Paula und kuschele mich an sie.
„Kannst du nicht schlafen?", fragt sie überrascht und streicht mir über den Rücken.
„Doch, weißt du? Deswegen sitze ich jetzt auch hier", brumme ich zurück.
Paula seufzt und führt dann das Gespräch mit Toni weiter. Es geht um seine Ausbildung, doch lange zuhören kann ich nicht. Meine Gedanken schweifen unausweichlich wieder zu Papa und quälen mich mit all ihren Kräften. Wie lange dauert bitte die OP? Warum haben wir noch keine neuen Infos? Es muss doch was passiert sein.
Wie, als wären meine Gedanken gehört worden, durchschneidet Paulas klingelndes Handy diese allgemeine Ruhe.
Mit einem kurzen Blick auf das Display stellt sie fest: „Das ist Phil."
In mir dreht sich alles um. Es ist gut, dass wir neue Infos bekommen. Aber will ich sie wirklich hören?

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now