65 - Unfaire Mittel

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„Paula, Franco, ich brauche einen Zugang."
„Nee Alex, wirklich nicht." Ich möchte mich aufrecht hinsetzen, doch Alex steuert direkt dagegen an.
„Du bleibst schön liegen. Ich mache, was ich für richtig halte. Danach geht's in die Klinik. Und zu Hause wird dann mal ordentlich geredet, ne?"
Ich rolle nur mit den Augen.
„Das habe ich gesehen. Kein Entkommen, tut mir leid", sagt Alex und nimmt alles entgegen. Wieso haben die überhaupt einen Notfallrucksack mitgebracht?
Ich schließe meine Augen. Mir ist das hier alles vor meiner Klasse mehr als unangenehm.
Doch Alex reagiert sofort. „Lässt du deine Augen auf?"
„Mann Alex, ich...mag dich nicht", brumme ich.
Alex lacht auf. „Ich weiß, was du sagen wolltest. Aber ich mag dich trotzdem. Stell dir vor, deswegen tun wir das auch für dich."
Ich drehe meinen Kopf weg und beobachte Papa, wie er mit Frau Gerlach redet, ehe er sich an uns wendet. „Einer von uns fährt jetzt mit dir in die Klinik, deine Blutwerte müssen gecheckt werden. Die anderen beiden bleiben hier und machen den Kurs weiter. Mit wem möchtest du fahren?"
Ich überlege kurz. „Paula", entscheide ich. Sie wird bestimmt am meisten Verständnis haben. Gerade genannte zaubert nun auch noch eine Infusion hervor, die sie mir an den Zugang hängt.
„Dann verfrachte ich sie dir noch ins Auto?", fragt Alex, was Paula bejaht. Ich dachte kurzzeitig, dass vom RTW die Rede ist. Aber sie sind mit Paulas Auto gekommen.

Und auf diesem Weg bin ich im Behandlungsraum der Klinik gelandet. Wer hier heute Dienst hat? Keine Ahnung. Ich möchte mit keinem reden. Warum auch, ich werde eh nicht verstanden. Paula tigert im Raum hin und her, scheint in ihre Gedanken versunken zu sein, bis sie sich irgendwann unvermittelt zu mir dreht.
„Es muss doch einen Auslöser dafür gegeben haben."
„Gesunde Ernährung ist einfach wichtig."
„Schön und gut, da liegst du ja auch richtig. Aber wie bist du darauf gekommen, dass du dich ungesund ernährst? Und irgendjemand muss dir doch diesen Floh ins Ohr gesetzt haben. Bist du mit deiner Figur unzufrieden? Dein Essverhalten erinnert nämlich eher an eine Magersucht, nicht an gesunde Ernährung." Sie schiebt meine Beine etwas zur Seite und setzt sich auf die Liege. Mit zusammengezogenen Augenbrauen liegt ihr Blick auf mir.
Nervös spiele ich an meinen Fingern. Ich kann nicht sagen, dass ich durch das Gespräch zwischen Phil und Alex darauf gekommen bin. Sonst fühlen sie sich schuldig, obwohl keine Schuld bei ihnen liegt. Auf keinen Fall.
Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren und probiert krampfhaft, eine plausible Antwort zu finden. Da kommt mir die aufgehende Tür passend. Nicht so passend jedoch die Person, die reinkommt.
„Musste es wirklich so weit kommen?", seufzt Phil, statt uns ordentlich zu begrüßen. Hinter ihm kommt Schwester Steffi rein.
„Ihnen auch einen guten Tag, Herr Doktor." Ich ignoriere seine Begrüßung einfach.
„Was ist denn jetzt genau passiert?" Er setzt sich auf den Hocker und rollt zu mir. Doch ich gebe ihm keine Antwort, und so bekommt er sie von Paula.
„Und wie geht's dir jetzt nach der Infusion?", richtet er sich an mich.
Ich zucke mit den Schultern. „Besser."
„Okay, Steffi, nimmst du einmal bitte Blut ab? Wie viel hast du die letzten Tage denn getrunken?"
Erneutes Schulterzucken. „Vielleicht einen Liter?"
„In welcher Zeitspanne?", hakt er weiter nach.
„Innerhalb von drei Tagen?"
„Sind das jetzt Aussagen oder warum endest du alles wie eine Frage?"
Phil geht mir gerade einfach nur auf die Nerven. „Mein Gott, ich zähle doch nicht die Milliliter mit, die ich trinke."
„Hat Alex doch richtig gelegen. Trinkst du Wasser, trinkst du fast nichts. Du brauchst einfach den Geschmack. Und das bei dem Wetter", stellt er fest.
„Ist aber ungesund."
Phil lässt das einfach so stehen.

Zum Glück hat Phil mich nach der Blutentnahme entlassen. Die Werte guckt er sich an und kann dann ja auch zu Hause handeln, wenn es Bedarf gibt. Paula ist mit mir nach Hause gefahren, wo ich direkt in mein Zimmer gegangen bin. Keine Lust auf irgendjemanden. Trotzdem hat sie noch ausdrücklich gesagt, dass wir nachher alle miteinander reden. Wenn sie das so unbedingt wollen.

Nach ungefähr vier Stunden, die ich mit schlafen und am Handy verbracht habe, klopft es an meiner Tür. Ich reagiere nicht. Die Lust auf Kontakte ist noch immer nicht zurück.
Trotz meiner ausgebliebenen Antwort geht die Tür nach kurzem Warten auf. Tim kommt in mein Zimmer.
„Ich dachte schon, dass du schläfst." Er lächelt mich an.
Ich drehe mich weg und ziehe meine Decke bis zum Kinn. Eine Antwort bekommt er nicht. Mein Blick ist starr aus dem Fenster gerichtet.
Ich merke, wie sich das Bett senkt. Er hat sich zu mir gesetzt.
„Was ist los, mh?", fragt er liebevoll.
„Du bist doof", brumme ich in meine Decke hinein.
„Ach, das bin ich? Wieso denn?"
„Du bist mir in den Rücken gefallen."
„Ach so. Natürlich bin ich doof. Weil ich mich um meine Freundin sorge und ihr helfen möchte. Du hast recht, wie kann ich nur? Was bin ich für ein Freund?" Seine Stimme ist ruhig und er lacht leise auf. Er findet das witzig. Er findet witzig, dass ich bockig bin.
„Blödmann."
„Nicht solche Wörter hier. Was muss ich denn tun, damit du mich nicht mehr blöd findest?"
„Der Zug ist abgefahren."
„Bist du dir da sicher?" Das Grinsen schwingt nur so in seiner Stimme mit.
„Ja", gebe ich eisern zurück.
Mein Bett senkt sich weiter. Langsam zieht er meine Decke etwas runter. Meine Bemühungen, sie an Ort und Stelle zu lassen, sind erfolglos. Er ist einfach stärker.
Sein Atem kitzelt an meinem Ohr, als er flüstert: „Du kannst bestimmt nicht lange böse auf mich sein. Schon gar nicht, wenn ich nicht mal was getan habe."
Das verschafft mir eine wohlige Gänsehaut. Verlangen kommt in mir auf. Verlangen nach ihm. Aber nein, ich bleibe stark und drehe mich jetzt nicht zu ihm um.
„Ich sehe doch, dass es dir schwerfällt, mir zu widerstehen." Ich sehe sein Schmunzeln gerade klar vor mir.
„Es fällt mir nicht schwer. Du bist nicht nur doof, sondern auch eingebildet."
Statt einer Antwort bestehend aus Wörtern, fängt er an, meinen Hals zu küssen. Was ein Arsch. Er weiß, dass ich da schwach werde.
Lange halte ich es nicht aus, keine Reaktionen zu zeigen. Kurzerhand drehe ich mich zu ihm. Er löst sich von meinem Hals und grinst mich an. „Was habe ich gesagt?" Er hängt halb über mir. Sieht ungemütlich aus.
„Halt deinen Mund, du hast mit unfairen Mitteln gespielt." Ich ziehe ihn zu mir runter und verwickle ihn in einen langen Kuss.

Irgendwann kommt Tim jedoch zum eigentlichen Punkt.
„Ich sollte dich holen, damit wir uns alle mal gemeinsam unterhalten und nach einer Lösung gucken können."
Ich schnaube. „War mir klar."
„Ich habe dich gerade trotzdem aus Liebe geküsst, nicht für andere Zwecke." Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn und steht dann auf. „Komm, das muss sein. Wir wollen alle, dass es dir wieder gut geht."
„Mir geht es...", will ich protestieren, doch Tim fährt mir schnell dazwischen. „Dir geht es nicht gut, hör auf, dich selbst zu belügen. Und nein, du ernährst dich auch nicht gesund."
Schweigend folge ich ihm nach unten. Notgedrungen versteht sich.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now