105 - Nicht springen!

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Es ist komisch, aber ich kann die Ruhe kaum noch genießen. In jeder Situation schätze ich ab, was jetzt wohl passieren könnte. Und das macht mich einfach wahnsinnig.

Anni ist bei uns eingezogen - oder so ähnlich. Die letzten Ferientage wollen wir zusammen bei mir verbringen, so wie wir das immer machen.
Und oh Wunder: Sie vergehen ohne jegliches Pech!
Mir wurde dafür sogar gratuliert. Ich fand es nicht so witzig, die anderen umso mehr. Na ja, wenn die ihren Spaß haben.

Es ist Freitag, der letzte Freitag der Ferien. Am Montag ist wieder Schule, die Freude ist auf jeden Fall riesig. Zumal Tag um Tag die Angst wächst, wieder auf Tim zu treffen. Es graut mich richtig, wenn ich daran nur denke.

Gegen Mittag kommt Stephan mit Amelie vorbei. Sie löst ihre versprochene Übernachtungsparty ein. Die ist bei mir schon längst in Vergessenheit geraten, aber Amelie würde das niemals passieren. Wenn sie sich darüber freut, mache ich das natürlich gern. Ich mag sie ja auch.
„Hallo Fine, ich freue mich schon richtig auf heute und morgen!" Amelie springt durchs Wohnzimmer, möchte wahrscheinlich gerade Alex begrüßen, als sie abrupt stehenbleibt. Sie holt tief Luft, um im nächsten Moment zu schreien: „Ihr habt jetzt ein Trampolin!"
Und schneller als man gucken kann, flitzt sie in den Garten und rauf aufs Trampolin.
„Das wird eher eine Trampolinparty", bemerkt Stephan schmunzelnd und begrüßt Alex mit einem Handschlag.
„Fine, gehst du mit raus und passt auf?", bittet Alex.
Ich nicke. „Klar, sie ist ja auch meine Freundin, das ist unsere Party."
Grinsend geselle ich mich zu Amelie, setze mich aber auf den Rasen neben dem Trampolin.
„Wieso kommst du nicht mit rauf?" Amelies Zopf rutscht bei jedem Sprung ein wenig runter und hängt ihr schnell im Nacken.
„Ich darf noch nicht so viel Sport machen, weil ich erst operiert wurde. Aber ich gucke dir gern zu."
„Oh, darfst du dich jetzt gar nicht mehr bewegen?" Sie lässt sich auf ihren Po plumpsen und springt danach wieder auf ihre Beine.
„Ich darf mich bewegen, aber eben nicht sportlich betätigen. Dafür dehne ich meine Beine immer ein wenig, damit ich meinen Spagat nicht verlerne."
Ihre Augen werden groß. „Ich will auch Spagat können! Aber ich kann das nicht."
„Wir können uns ja mal zusammen dehnen, wenn du möchtest", schlage ich vor.
„Au ja!" Es ist, als würde sie noch einmal extrakräftig ins Trampolin springen, um danach auf dem Boden aufzukommen. Nur hat sie zu viel Schwung und stolpert, als sie landet.
Ich verrenke mich ungünstig und greife gerade noch so nach ihrem Arm. „Immer schön langsam, sonst tust du dir noch weh." 
Sie deutet ein Augenrollen an.
„Na, das habe ich gesehen. Du willst dich doch auch nicht verletzen, oder?"
Von ihr kommt nur noch ein knappes Kopfschütteln, dann fordert sie mich auch schon auf, ihr die Dehnübungen zu zeigen.

Amelie schlägt sich wirklich nicht schlecht. Aber je früher man damit anfängt, desto leichter ist das ja auch. 
Nach dem Abendessen machen wir es uns auf der Couch gemütlich. Ich darf mir jetzt einen Barbiefilm nach dem anderen angucken. Das Beste am Abend ist wohl das Popcorn, welches Paula uns vor die Nase stellt.
Meine Gedanken schweifen ab - bei aller Liebe, aber Barbiefilme sind nun nicht so meins.
Mal wieder drehen sich meine Gedankengänge um den ersten Schultag. In mir spielen sich die verschiedensten Szenen ab, wie das mit Tim ablaufen könnte.
Können wir uns gar nicht mehr in die Augen gucken? Probiert er, mit mir zu reden? Aber wäre ich dann dazu bereit oder würde ich abblocken?
Fragen über Fragen, die mir wohl erst am Montag beantwortet werden können.

Am nächsten Tag ist nur Papa im Haus, der Rest ist arbeiten.
Amelie ist nicht mehr vom Trampolin zu bekommen, womit ich auch kein größeres Problem habe. So kann ich die Zeit nutzen und mit Anni über Tims und mein nächstes Aufeinandertreffen diskutieren. Es ist nicht so, dass das schon in den letzten Tagen Gesprächsthema Nummer ein war, nein.
Ich frage mich, worüber wir sonst immer geredet haben, wenn nicht darüber.

Außerdem muss ich mir bei meiner Verrenkung gestern irgendwas gezerrt oder verklemmt haben, meine linke Seite tut einfach nur weh, wenn ich mich großartig bewege.

„Mädels, ich bin einkaufen!", ruft Papa irgendwann in den Garten, kurz darauf hört man ein Auto wegfahren.
Ich wende mich wieder meinem Handy zu, gucke jedoch ständig hoch, um mich zu vergewissern, dass mit Amelie alles gut ist. Sie wird aber auch echt nicht müde vom Trampolinspringen.

„Amelie, komm mal bitte kurz vom Trampolin. Ich muss etwas aus meinen Zimmer holen." Ich erhebe mich vom Rasen und lege mein Handy zur Seite. Mein Akku ist leer, ich brauche meine Powerbank aus dem Zimmer.
„Warum denn? Ich kann doch trotzdem springen."
„Nein Amelie, komm bitte runter, solange ich jetzt nicht neben dir bin."
Maulend hüpft sie vom Trampolin und stellt sich daneben. „Beeile dich."
„Ja ja, du kleine Meckertante."

Im Haus brauche ich doch etwas, ehe ich meine Powerbank überhaupt finde. Aber sie ist aufgeladen, immerhin. Anni und ich sind noch lange nicht fertig, alle möglichen Szenarien am Montag zu analysieren. Dass ein Szenario eintreten wird, welches uns nicht ansatzweise in den Sinn gekommen ist, konnten wir nicht wissen. Also war alles für die Katz, wie wir später feststellen.

Ich mache noch einen kurzen Abstecher ins Badezimmer, ehe ich die Stufen schon fast runterrase. 
Gerade erst bei der Hälfte der Treppe angekommen, höre ich ein dumpfes Geräusch, bei dem ich nicht einordnen kann, woher es kam.
Doch als ich noch so irritiert auf der Treppe herumstehe und darüber nachdenke, folgt nach einer kurzen Stille hysterisches Schreien.
Das kommt aus dem Garten, eindeutig.
Ich habe ihr doch gesagt, dass sie nicht springen soll.

Die letzten Stufen springe ich runter und renne durchs Wohnzimmer. Schon da kann ich sehen, wie Amelie auf dem Boden liegt. Ihr Schreien scheint ursprünglich ein hysterisches Weinen zu sein. Nicht besser, überhaupt nicht.

„Hey, was ist passiert?" Ich knie mich zu ihr auf den Rasen. Sie liegt ein ganz schönes Stückchen vom Trampolin entfernt.
„I-ich bin ... d-doch nur gesprungen", bringt sie unter lauten Schluchzern hervor. „M-mein Arm", jammert sie und kneift ihre von Tränen nassen Augen zusammen.
Ich merke, wie in mir die Überforderung wächst. Kann Papa nicht langsam mal wiederkommen?
„Kannst du den Arm bewegen?"
„Nein", flüstert sie und zieht ihre Nase geräuschvoll hoch, ehe ihre Schluchzer weitergehen. Die Tränen laufen ihr über die Wangen, tropfen auf ihre Hose. Ihr Gesicht nimmt rote Flecken an.
„Okay, pass auf. Ich rufe einen Rettungswagen, dann wird dir geholfen, okay?"
Sie nickt hektisch.
„Alles wird gut, du bekommst gleich Hilfe", rede ich beruhigend auf sie ein und gucke mich dabei nach meinem Handy um. Wo hatte ich gesessen und es liegengelassen?

Drei Prozent. Das muss jetzt schnell gehen.
Ich rattere alle nötigen Infos in einem Tempo runter, in dem der Leitstellendisponent nur mit Mühe mitkommt. Aber mein Akku.
Und ich habe mich um keine Sekunde verschätzt, denn noch bei der Verabschiedung bricht das Gespräch plötzlich ab.
Jetzt heißt es warten und Amelie irgendwie beruhigen. In der Hoffnung, dass sie mir hier nicht auch noch hyperventiliert.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now