90 - Verhängnisvoller Sonnenaufgang

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Das Aufeinandertreffen mit meinen Großeltern ist immer wieder so emotional. Freudentränen bleiben mir nie erspart, wenn ich sie wiedersehe, weil ich mich einfach so freue. Und es ist immer wieder schön zu sehen, wie selbst Phil und Alex begrüßt werden, als würden sie zur Familie gehören. Auch wenn sie ganz schöne Verständigungsprobleme haben. Dafür sind ja dann Papa, Toni und ich da. 
Paula war etwas zurückhaltender, immerhin ist sie zum ersten Mal da. Aber ich merkte sofort, dass auch hier die Chemie einfach stimmt. Verstehen Alex und Phil mittlerweile jedoch wenigstens Bruchteile vom Italienisch, sieht Paula so überhaupt nicht durch. Das kann witzig werden. 

Das Haus meiner Großeltern liegt fünf Minuten Fußweg vom Meer. Perfekter kann es einfach nicht sein. Zudem ist es äußerst groß, da Papas Familie sehr umfangreich ist und hier mit der Zeit jeder mal gewohnt hat. Papa selbst ist ebenfalls in diesem Haus aufgewachsen, was das alles noch schöner macht. Es fühlt sich einfach an wie Zuhause.

Ich treffe Paula etwas verloren aussehend auf dem Flur, als ich aus dem Zimmer komme, wo ich mit Toni die nächsten drei Wochen wohne. Ihr Blick huscht unsicher von Tür zu Tür.
„Kann man dir helfen?", frage ich lächelnd.
„Fine, bitte sag mir, dass man sich hier schnell zurecht findet."
Ich lache auf. „Frag doch Phil und Alex, wie lange sie gebraucht haben. Aber wo liegt jetzt das Problem?"
„Das Bad. Welche Tür ist bitte das Badezimmer?"
Zielstrebig gehe ich zur Tür genau vor ihrer Nase. „So viele Zimmer gibt es hier nun auch nicht. Und falls du dir so unsicher sein solltest, dann kannst du auch unten gehen. Gleich die erste Tür links neben der Eingangstür. Außerdem kannst du das hier eigentlich an dem anderen Türknauf sehen."
„Ähm, ja. Ist einfach. Danke." Und damit ist sie im Bad verschwunden.

Im Laufe des Tages treffen dann auch Papas Schwester und ihr Mann ein. Das mit der Panne hat ziemlich lange gedauert, und irgendwie fühle ich mich automatisch schuldig, obwohl ich weiß, dass das Blödsinn ist.
Gegen Abend sind wir schon recht fertig, da die Reise anstrengend war. Aus diesem Grund essen wir relativ früh Abendbrot. Was ziemlich witzig ist, denn unsere Unterhaltungen legen natürlich sofort in Italienisch los. Alex, Phil und Paula halten sich raus, sie haben ja auch keine andere Wahl.

Ich mag es kaum glauben, aber während der ersten drei Tage ist mir mein Spiegel doch tatsächlich nicht begegnet. Wir haben in dieser Zeit eine kleine Feier für Tonis erfolgreiches Abitur geschmissen. Jetzt wird er wohl nach den Ferien in Papas Fußstapfen treten und Notfallsanitäter werden.

Am Montag stehe ich besonders früh auf. Bevor die Sonne aufgeht. Eine Sache, die ich in Italien schon immer gern gemacht habe, ist, bei Sonnenaufgang am Strand zu joggen. Und ich sollte jede Zeit, in der ich nicht verletzt bin, ausschöpfen. Man weiß ja nie, schon gar nicht bei mir.
Leise ziehe ich mich um, um Toni nicht zu wecken.
Unten kann ich jedoch einen kleinen Aufschrei nicht verhindern. Aber wer würde auch schon damit rechnen, dass Paula auf der Couch sitzt und am Handy ist.
Durch meinen Aufschrei zuckt auch sie zusammen.
„Was machst du denn hier?", frage ich, während ich probiere, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Ich konnte nicht mehr schlafen. Da habe ich ein bisschen mit Jacky geschrieben." Sie wackelt mit ihrem Handy in der Hand.
„Mit Jacky? Um diese Uhrzeit?"
„Sie hat Nachtschicht und kann auch nicht schlafen", sagt Paula schulterzuckend, legt dann aber ihren Kopf schief. „Und was treibt dich um diese Uhrzeit nach unten?"
„Ich wollte am Strand joggen gehen. Beim Sonnenaufgang, mache ich immer hier. Möchtest du mitkommen?"
„Warum nicht, klingt ja ganz verlockend. Ich ziehe mich bloß kurz um."

Fünf Minuten später sind wir unterwegs zum Strand.
„Fühlst du dich hier eigentlich wohl?" 
Paula antwortet ohne Zögern. „Ja. Deine Familie ist wirklich toll. Natürlich finde ich das alles noch etwas gewöhnungsbedürftig, aber ich habe euch ja."
Ich muss lächeln. Was bin ich immer wieder froh, Paula jetzt fest an meiner Seite zu haben.

Ich sauge die Meeresluft praktisch wie ein Staubsauger auf.
Das Haus meiner Großeltern steht vom nächsten Hotel ein ganzes Stückchen entfernt. Mit Touristen haben wir es an diesem Strandteil nicht ganz so viel zu tun.
Paula und ich schweigen, atmen gleichmäßig und halten ein lockeres Tempo. Ein leichter Wind weht uns um die Nase, es riecht nach Meer. Für mich nach meiner zweiten Heimat.
Uns bietet sich einfach ein Bild wie aus dem Bilderbuch. Ein Plätschern ist zu hören.
Warte - ein Plätschern?
Wie gesagt, ein Bild wie aus dem Bilderbuch, wenn da nicht...
Ich bleibe stehen. Verschärfe meinen Blick.
„Ach du Scheiße", kommt es nur noch aus mir. Paula hat erst einige Meter später bemerkt, dass ich stehengeblieben bin, und dreht sich nun zu mir um.
Ich streife meine Schuhe ab und renne ins Wasser. Da droht jemand zu ertrinken. Jetzt? Um diese Uhrzeit? Was zur Hölle. 
Mein Herz stolpert kurz, ich ziehe scharf Luft ein. Das kalte Wasser mit meinem erhitzten Körper durch den Sport - keine gute Kombination.
Meine Füße berühren noch den Sand, als ich etwas an meiner rechten Fußsohle spüre. Wie ein Schnitt. Aber ich spüre keine Schmerzen, vielleicht wurde ich verschont.
Mein Körper ist auf Hochtouren, so schnell ich kann, schwimme ich zu der Person. Wieso muss die auch so weit draußen sein?
Paula ruft mir etwas zu, aber ich verstehe nicht, was sie mir sagen will. Mein Fokus liegt einzig und allein auf dieser Person, die ich beim Näherkommen als eine junge Frau identifizieren kann.
Nach einer gefühlten Unendlichkeit erreiche ich sie endlich und umgreife sie.
Vorher wirkte sie schlapp, doch jetzt, nachdem ich sie gepackt habe, wehrt sie sich plötzlich mit all ihren Kräften. 
Froh darüber, mal ein Silberabzeichen gemacht zu haben, schaffe ich es irgendwie, die Frau auf den sicheren Boden zu bringen, ab dem sie dann auch nicht mehr um sich schlägt und tritt. Vielen Dank.
Völlig entkräftet ziehe ich sie den letzten Rest an Land, wo sich Paula sofort der Frau annimmt, die nun wie verrückt hustet. Eine Menge Wasser.
„Du bist verrückt", kommt es von Paula.
„Was soll ich denn machen? Zusehen, wie sie ertrinkt?", gebe ich außer Atem zurück.
Paula zieht ihr Handy aus ihrer Hosentasche. „Ruf einen RTW."
Ich ergreife ihr Handy, zumindest beim dritten Mal. Zweimal greife ich daneben, was mir einen besorgten Blick von Paula einbringt.
„Alles okay bei dir?"
Ich nicke schwach, darauf bedacht, meinen Schwindel dadurch nicht zu verstärken. Das Adrenalin ist mit einem Schwung aus meinem Körper, und jetzt spüre ich allmählich auch einen Schmerz an meinem rechten Fuß.
Nur stockend kann ich einen Rettungswagen anfordern. Dabei konzentriere ich mich auf Paula. Die junge Frau ist in ihren Armen gerade bewusstlos geworden.

Langsam lasse ich das Handy sinken, nachdem mir gesagt wurde, dass Hilfe unterwegs ist. Paula rückt ein Stück zu mir, um mir das Handy aus der Hand zu nehmen. Im nächsten Moment hält sie es schon an ihr Ohr.
Das Bild vor meinen Augen verschwimmt immer mehr, mein Herz will sich gar nicht mehr beruhigen. Es dreht durch, mein ganzer Körper dreht durch.
„Fine, setz dich hin. Du kippst mir gleich weg." Paula hockt neben ihrer spontanen Patientin im Sand, hat gerade mit jemandem auf Deutsch geredet, was ich nicht wirklich aufnehmen konnte.
Bevor ich mich jedoch eigenständig hinsetzen kann, siegt die Schwerkraft schon von allein.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)


7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Where stories live. Discover now