54 - Seiten der Geschwisterliebe

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Wenn Amelie ihren Zug macht und jeden Punkt auf dem Würfel akribisch abzählen muss, kann ich ja Tim begrüßen gehen, der mit Phil noch im Flur steht. Dachte ich. Kaum will ich aufstehen, greift Amelie ein.
„Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen", sagt sie schmollend.
„Ich muss meinen Besuch aber mal begrüßen."
„Das ist ein Junge. Aber schön, du musst selber wissen, was für dich gut ist." Mit erhobenem Kopf und durchgestrecktem Rücken vollendet sie ihren Zug.
Mit hochgezogenen Augenbrauen starre ich sie an. Hat das gerade ernsthaft eine siebenjährige zu mir gesagt? Anscheinend sind sie und ihre Freundinnen gerade gewaltig auf dem Anti-Jungs-Trip.
„Du bist." Sie drückt mir den Würfel in die Hand. Na schön, dann muss Tim ganz kurz warten.
Während ich an der Reihe bin, stoßen Tim und Phil zu uns.
„Amelie, du müsstest dich jetzt mal kurz selbst beschäftigen. Ich muss kochen und schätze, dass Fine und Tim Zeit für sich haben wollen", kommt es vorsichtig von Phil.
Doch sofort zieht sie eine Schnute.
„Also meinetwegen können wir mit ihr eine Runde spielen. Dann müssen wir aber neu anfangen, sonst ist es ja unfair für mich", mischt sich Tim unerwartet ein.
Amelies Augen leuchten auf. „Au ja! Vielleicht bist du ja doch nicht so komisch."
Jetzt muss auch Phil lachen und geht kopfschüttelnd wieder in die Küche.
Ich begrüße Tim noch mit einer Umarmung, dann setzt er sich mit zu uns.
„Wer ist sie eigentlich?", raunt er mir leise zu.
„Stephans Tochter. Der Polizist, der mich heute gebracht hat. Und der mal bei uns in der Klasse war."
Er nickt wissend.

Phil hat sich mit dem Kochen wirklich beeilt, was ich ziemlich süß finde. Ich glaube, die denken hier alle wirklich, zwischen Tim und mir läuft was. Oder könnte bald laufen. Sicher über meine Gefühlslage bin ich mir selbst nicht wirklich, wenn ich ehrlich bin.
Nachdem wir zu viert gegessen haben, Toni wollte nichts essen, haben Tim und ich uns nach draußen in den Garten verkrümelt.
Mit ihm kann ich einfach über so vieles reden, fühle mich bei ihm wohl. Ja, es fühlt sich anders an, aber ich kann nicht sagen, wie es sich anfühlt. Ich bin gerade einfach komplett verwirrt, was das betrifft.

Tim verabschiedet sich gegen halb acht und ich beschließe, sofort nach oben zu Toni zu gehen. Ich möchte mich bei ihm bedanken. Und vielleicht auch etwas mehr erfahren.
Vorsichtig klopfe ich an.
„Ja?"
Ich drücke die Türklinke runter und halte kurz die Luft an, als ich Toni auf seinem Bett sitzen sehe. Er sieht aus wie ein Häufchen Elend mit blauem Auge und aufgeplatzter Lippe. Ich will gar nicht wissen, wie sein Oberkörper aussieht.
„Was möchtest du?", fragt er mit einem schwachen lächeln.
Ich setze mich auf sein Bettende. „Mich bei dir bedanken. Das hätte bestimmt nicht jeder Bruder für seine kleine Schwester gemacht."
Toni rafft sich auf und kommt zu mir rüber. „Ich aber für dich, weil ich meine kleine Schwester lieb habe." Er nimmt mich fest in den Arm, jammert dann aber schnell vor Schmerz auf und rückt etwas von mir weg. Seine Hand liegt auf den rechten Rippen.
„Alles okay?", frage ich sofort besorgt.
Er nickt, jedoch nicht ganz glaubwürdig. „Ist nur 'ne Prellung."
„Soll Phil lieber noch mal gucken?", schlage ich vor, doch Toni winkt ab.
„Wenn du meinst", seufze ich eher weniger überzeugt. „Mich würde aber schon interessieren, was so erzählt wurde", lenke ich das Thema wieder auf den Grund.
„Nein Fine. Ich werde es dir nicht sagen." Plötzlich ist er in einer ganz anderen Stimmung. Anscheinend trifft man da bei ihm einen wunden Punkt.
„Hast du es denn wenigstens Stephan oder Robin gesagt?"
„Ich werde dir gegenüber keine Angaben machen. Und jetzt hätte ich gern wieder meine Ruhe." Er wendet seinen Blick ab und starrt aus dem Fenster.
Etwas erschrocken von seiner Reaktion verlasse ich sein Zimmer. Das war gerade etwas hart, wow.

Unten lasse ich mich zwischen Papa und Alex fallen und kuschel mich an Papa. „Was ist denn los?", fragt dieser mich.
„Ich weiß auch nicht. Toni möchte mir nicht sagen, weshalb er sich geprügelt hat. Aber ich finde, es ist mein gutes Recht, das zu erfahren. Es geht hier immerhin um mich."
Papa nickt und legt einen Arm um meine Schultern. „Stephan hat mir eine Nachricht geschickt."
„Und?" Ich setze mich grade hin und gucke ihn erwartungsvoll an.
„Details will ich dir nicht gerade sagen. Aber grob gesagt hat dieser Heiko Dinge erzählt, die du angeblich auf der Party gemacht haben sollst. Und dann ist er immer wieder mit neuen Storys von dir mit neuen Typen gekommen. Sein Motiv soll die Party gewesen sein, weil du ihn abgewiesen hast. Er hatte anscheinend ein bestimmtes Ziel gehabt, wofür er dich volllaufen lassen wollte. Aber, nee, darüber will ich gar nicht nachdenken." Papa verzieht das Gesicht.
Ich lasse mir das Gesagte durch den Kopf gehen.
„Ein totaler Schwachsinn. Der Typ scheint ja von Natur aus auf Stress zu stehen, egal aus welchem Grund", schnaubt Alex.
Ich nicke. Genau meine Gedanken. Einfach ohne Sinn das alles.

Die nächste Zeit verläuft, gegen aller Erwartungen, Ereignislos. Tatsächlich, mir passiert nichts. Es passiert keinem was.
Auch nach zwei Wochen stehe ich da, kein Knochen kaputt, keine entzündete Wunde. Nichts. Irgendwann komme ich mir wie in einem Film vor. Als würde jeden Moment das Unglück höchst persönlich um die nächste Ecke springen und sich an mich klammern.
Da kann sich doch nur was ganz großes anbahnen. Oder?

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt