87 - Chips füllen Lücken

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Sicht Phil

„Fine? Nicht schlafen jetzt."
„Lass mich", murrt sie zurück und dreht ihren Kopf auf die andere Seite. Sie ist gar nicht mehr wirklich hier.
Ich tausche einen Blick mit Schwester Birgit. „Ich lege sie hier in den Behandlungsraum. Sie meinte, sie will nicht allein sein. Das kann ich verstehen. Und dann kann ich sofort bei ihr sein, wenn was ist."
Sie nickt und kabelt Fine ab. Ihr Herz hat ganz schön lang gebraucht, um sich zu beruhigen. Ist aber auch mehr als verständlich. Ich will nicht wissen, was noch passiert wäre, hätten Tobi und ich diesen durchgeknallten Typen nicht gesehen.
Aber was hat Fine im Treppenhaus gemacht? Das war mal wieder ihr Talent, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.
Nachdem ich Fine in den Behandlungsraum gelegt und den Kollegen gesagt habe, dass der jetzt mal belegt ist, muss ich erst mal tief durchatmen und mich kurz sammeln, ehe ich zurück zur Polizei gehen kann.
Zum Glück ist die Nacht heute wirklich ruhig. Also was Patienten angeht, von dem Geschehen gerade kann man das ja nun gar nicht behaupten.

„Den kannst du jetzt gebrauchen." Birgit stellt mir eine dampfende Tasse Kaffee vor die Nase.
„Danke." Ich tätige die letzten Eingaben am Computer und drehe mich dann auf dem Hocker um. „Ich hoffe, dass Fine das relativ gut verarbeitet bekommt. Obwohl ich davon eher nicht ausgehe. Und dann die Sache mit ihrem Freund." Ich fahre mir übers Gesicht. Wenn ihre Erinnerungen nicht wiederkommen, müssen wir ihr das auch noch irgendwie erklären.
Birgit zieht eine Augenbraue hoch. „Was ist denn mit dem?"

Meine Erzählung ist in vollem Gange, als ich panisch gerufen werde.
„Phil! Fine hyperventiliert!"
Die Kaffeetasse muss fast daran glauben, so schwunghaft stelle ich sie weg.
Tobi steht im Türrahmen und starrt auf Fine, die nach luft ringend auf der Liege liegt.

Sicht Josefine

Verdammt. Wo bin ich?
„Ich bin bei dir, alles ist gut. Beruhige dich."
Ich werde in eine Umarmung gezogen und rieche sofort Phils vertrauten Geruch.
Ich bin ruhig. Auffällig ruhig. Aber dieser Traum, der war doch so real.
„Hast du schlecht geträumt?" Er drückt mich etwas von sich weg. Ich bin im Behandlungsraum?
Langsam nicke ich.
„Hab ich es mir doch gedacht. Ich habe dir Beruhigungsmittel gegeben, du bist wirklich völlig durchgedreht."
Krass. Davon habe ich nichts mitbekommen. Aber dafür fühle ich mich jetzt auch einfach nur gerädert.
Phil steht auf. „Schlaf ruhig weiter. Wenn ich Feierabend habe, bringe ich dich hoch ins Zimmer, bleibe aber bei dir, also mach dir keine Gedanken."
Ich kann Phils Worten gar nicht mehr wirklich folgen, so schläfrig bin ich. Aber es ist schön, den Ausraster nicht mitbekommen zu haben.

Meinen Augen fällt es schwer, sich an diese Helligkeit zu gewöhnen.
Ich wache schon mit einem komischen Gefühl auf. Und dann kommt mir auch das Ereignis im Treppenhaus in den Kopf. Mein Herz zeigt mir gleich mal, dass mir das schwer in den Knochen hängt.
Langsam richte ich mich im Bett auf. Phil redet leise mit Papa, der längst seine ganze Farbe im Gesicht verloren hat. Anscheinend geht es um die Nacht.
„Ich lebe noch", sage ich leise und lächle leicht.
Ihre Köpfe drehen sich zu mir.
„Wo gerätst du nur rein", stößt Papa aus und steht auf, um mich fest zu umarmen.
„Ich weiß nicht. Aber ich möchte jetzt nicht daran denken. Wie spät ist es denn?"
Phil guckt auf seine Uhr. „Gleich um 11. Dein Beruhigungsmittel hat lange gewirkt."
„Beruhigungsmittel?" Ich gucke ihn schief an.
„Alles gut, du wirst das kaum mitbekommen haben", winkt Phil ab.
Mh, okay. „Also eigentlich will ich nicht mehr darüber reden, aber zwei Dinge würden mich noch interessieren. Was war seine Mission und wie kam die Polizei zu uns?"
„Zum jetzigen Stand ist er Medikamentenabhängig und hat gestern keinen anderen Ausweg gesehen, als bei uns welche zu klauen. Tobi und ich haben ihn dabei dann gesehen und er wollte flüchten. Durchs Treppenhaus. Frag einfach nicht. Und zu deiner zweiten Frage..." Phil fängt an zu schmunzeln. „Ich habe Tobis ersten Satz gehört, dass er dich loslassen soll. Dann habe ich alle Kräfte mobilisiert, jeder hat eine Station angerufen, damit keiner gucken kommt und ich habe die Polizei alarmiert. Natürlich war bei mir dann auch alles vorbei, als ich gesehen habe, dass es sich dabei um dich handelt. Aber es ist ja alles gutgegangen. Halbwegs." 
„Also bist du so gesehen mein Held?", stelle ich ebenfalls schmunzelnd fest.
Er hebt seine Schultern. „Wie man es nimmt." 
Ich öffne meine Arme, um ihn zu bedeuten, dass er mich umarmen soll. Das lässt er sich nicht zweimal sagen.
„Und was wolltest du jetzt so spät im Treppenhaus?", möchte Papa skeptisch wissen.
Ich seufze. „Ich hatte so ein doofes Gefühl. Meine Erinnerungen sind immer noch nicht zurück und das hat mich nicht in Ruhe gelassen. Deswegen wollte ich mich in die Notaufnahme schleichen und mit Phil reden."
„Ach Mann, das wird schon. Anni kommt gleich, dann lassen wir euch mal allein." Phil drückt meine Hand, als die Tür auch schon aufgeht.
„Wenn man vom Teufel spricht." Papa grinst Anni an.
„Was soll das denn heißen? Ich bin kein Teufel." Anni streckt Papa die Zunge raus und umarmt mich dann. „Du machst Sachen, wirklich. Phil hat mir auch schon eine Nachricht über die Nacht geschrieben."
„Stopp, nicht darüber reden, danke."

Anni setzt sich aufs Bett, nachdem Papa und Phil verschwunden sind. „Wann kannst du hier wieder raus?"
Ich zucke mit den Schultern. „Zwei Tage muss ich mindestens bleiben. Kommt halt auch auf meine Erinnerungen an."
Sie nickt und öffnet ihre Tasche, um eine Tüte rauszuholen. Paprikachips. Meine Augenbrauen schnellen in die Höhe. Wie kommt sie darauf?
Wortlos öffnet sie diese und isst einen Chip. „Möchtest du auch?", nuschelt sie und streckt mir die Tüte entgegen.
„Du weißt, dass ich das nicht mehr esse. Ich weiß gar nicht, wann ich meine letzten Chips gegessen habe", lehne ich leicht angewidert ab.
„Komm schon, Phil meinte, du sollst welche essen. Das könnte dir helfen."
„Also ich habe noch die gehört, dass Chips dabei helfen, seine Erinnerungen zurückzubekommen."
Sie lacht auf. „Das ist ja auch individuell. Also komm, einen Versuch ist es wert."
Individuell? Ich bin mir gerade nicht sicher, wer von uns beiden hier ein Problem hat.
Zögerlich greife ich zu.
„Komm jetzt, mach mal hinne. Es ist nur ein Chip, der bringt dich nicht um", drängelt sie.
Augen zu und durch. Die Gewürze entfalten sich sofort in meinem Mund. Doch statt dieses ungewohnte Gefühl, mit dem ich gerechnet hätte, weil ich die schon so lang nicht mehr gegessen habe, kommt es mir so vor, als hätte ich sie gestern erst gegessen.
„Na los, noch mehr." Sie wackelt mit der Tüte vor meinen Augen.
„Ich frage mich immer noch, wie das meine Erinnerungen abrufen soll, aber wenn du dann zufrieden bist."
Eher ungewollt landen die nächsten Chips in meinem Mund, werden automatisch gekaut.
Und dann, wie aus heiterem Himmel, kommt mir das plötzlich so bekannt vor. Ich verziehe mein Gesicht.
„Und?", fragt Anni aufgeregt.
Ein Fetzen Erinnerung erscheint in meinem Gedächtnis. Wie ich mir wie verrückt Chips in den Mund stopfe. 
„Ich habe die erst gegessen", stelle ich verwirrt fest.
Sie nickt wild. „Du kannst dich erinnern?"
„Ja. Und ich verbinde das mit keinen schönen Gefühlen."
Ich schließe meine Augen und atme tief durch. Chips, die ich wie verrückt verschlinge. Verrückt. Was ist eigentlich mit Tim? An den habe ich noch gar nicht.... Nein.
Ich reiße meine Augen auf. Will dieses Bild nicht mehr sehen. Aber es funktioniert nicht. Tim und Mia. Nein. Nein, nein, nein. Bitte nicht. Das kann nicht wirklich passiert sein.
„Was weißt du?" Annis Augen gucken mich forschend an.
„Die Party. Tim und Mia. Phil hat uns abgeholt und ich habe zu Hause diese Chips gegessen", sage ich mit zitternder Stimme. Ich haue mir gegen den Kopf, will dieses Bild herausschlagen. Das Bild von Tim und Mia. 
Meine Sicht verschwimmt hinter Tränen.
Und dann kommen auch die letzten Teile. Das eine kommt zum anderen. Das Puzzle fügt sich zusammen, wird aber immer verschwommener, bis nichts mehr da ist. Der Unfall kommt nicht zurück. Aber wie ich Tim eine verpasst habe.
Ich lasse mich nach hinten sinken, ziehe mir die Bettdecke über den Kopf. Hätten diese scheiß Erinnerungen nicht einfach wegbleiben können?

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt