Kapitel 5

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Tessa

Als die Aufzugtüren sich öffnen und mir den Blick auf unsere Wohnung eröffnen, will ich kurz laut nach meiner Mutter rufen und ihr mitteilen, dass ich zu Hause bin. Dann fällt mir allerdings ein, dass sie immer noch auf der Arbeit ist und danach sofort in meine Schule fahren wird, um sich dort das alljährliche Gequatsche meiner Lehrer anzuhören. Sehen werde sie dann, also wahrscheinlich erst gegen Abend.

Von der Schule ziemlich fertig, stelle ich meine Handtasche auf dem Esstisch ab und lege den Autoschlüssel daneben. Dieses Mal würde Mom mich nämlich umbringen, wenn ich mal wieder einen Schlüssel verlieren würde. Aus der Tasche fische ich mein Handy und lasse mich dann auf unser schwarzes, Ledersofa fallen.

Wahrscheinlich würden viele sich um diese Zeit an den Schreibtisch setzen und mit ihren Hausaufgaben beginnen. Ich habe dieses Wort allerdings schon seit einigen Jahren aus meinem Vokabular verbannt und bin bisher auch gut mit dieser Einstellung durchgekommen.

Ich scrolle durch die Kontakte auf meinem Handy und tippe dann auf Jils Chat, um von dort aus, eine Nachricht an alle zu schreiben. Meine Finger fliegen beinahe über die Tastatur, während ich eine Einladung für alle Schüler aus meiner Stufe verfasse.

Herzlichen Glückwunsch,
hiermit bist du offiziell zu meiner Hausparty am kommenden Freitag eingeladen. Beginn: 20 Uhr
Ende: bis meine Mutter alle rauswirft
Ort: 991 5th Avenue (Oberstes Stockwerk), Upper East Side, Manhattan
Bringt gerne auch ausreichend Alkohol mit.
xoxo Tessa Grayham

Mit der entsprechenden Funktion schicke ich die Nachricht an alle, sodass ich es nicht immer neu schreiben muss. Dann lege ich mein Handy auf dem Glastisch vor mir ab und starre an die Decke.

Dadurch, dass ich nun völlig alleine bin, schleicht sich nach einiger Zeit die Langweile bei mir ein. All meine Freunde haben mir schon am Nachmittag gesagt, dass sie heute schon etwas vorhaben, also bin ich trotz meiner hohen Stellung in der Schule alleine.

Gerade spiele ich mit dem Gedanken mein Handy doch wieder in die Hand zu nehmen und auf irgendwelchen sozialen Netzwerken herum zu surfen, da kommt mir das Päckchen, das sich in meiner Tasche befindet, in den Sinn. Soll ich es öffnen oder lieber einfach ignorieren?

Die zweite Möglichkeit würde mir sicher einiges ersparen, doch irgendwie packt mich in diesem Moment die Neugierde. Dieses Interesse wächst mit jeder Sekunde immer weiter, sodass es mich nach einigen Minuten dazu treibt mich vom Sofa zu erheben und mich auf die Suche nach dem Geschenk zu machen. Es muss irgendwo unter meinen zahlreichen Heften, Ordnern und Blöcken auf dem Boden zwischen der alten Kaugummipackung und dem zerrissenen Haargummi liegen.

Also schütte ich meine Tasche auf dem gesamten Esstisch aus und beginne mir einen Zauberspruch zu wünschen, der mir die gesuchten Sachen direkt vor meiner Nase auftauchen lässt, wenn ich sie gerade nicht finden kann. Sowas würde meinen Alltag erheblich erleichtern. Allerdings ist mein Leben an vielen Stellen wahrscheinlich schon so leicht, dass ein paar Hürden vom Karma einfach vorgeschrieben sind.

Während ich also weiter suche, hört mein Handy auf einmal gar nicht mehr auf zu vibrieren. Alle zwei Sekunden ploppen Nachrichten von Leuten auf, die fragen, ob ich wirklich sie gemeint habe oder wissen wollen, ob sie Alkohol mitbringen sollen. Einige beantworte ich mit einem kurzen 'Ja', während ich andere einfach ignoriere. Sollen sie doch selbst entscheiden, ob sie erscheinen oder sich selbst was zu trinken mitbringen sollen.

Gerade will ich meine Suche aufgeben, da sticht mir das unscheinbare, braune Paket in die Augen. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen greife ich danach und lasse mich auf einen Stuhl fallen. Dass der ganze Inhalt meiner Handtasche auf dem Tisch verstreut liegt, blende ich einfach aus.

Halb interessiert und halb ängstlich reiße ich die Pappe auseinander und öffne so das Geschenk. Inständig hoffe ich, dass es nicht wieder irgendwas Materielles ist, was seine Assistentin in seinem Namen bei Amazon bestellt hatte. Obwohl solche Sachen für viele Teenager in meinem Alter wahrscheinlich der reinste Traum wären, wünsche ich mir etwas Persönliches. Was genau ich erwarte, weiß ich nicht, aber irgendwie denke ich immer, wenn er etwas schickt an die Zeit, die ich in meiner Kindheit mit ihm verbracht habe. Dann wünsche ich mir ein Geschenk aus dieser Zeit und kein iPhone oder sonst irgendeinen Quatsch, sondern etwas von Herzen. In meinem Inneren hoffe ich nämlich immer noch darauf, dass er unsere gemeinsame Zeit nicht vergessen hat, hoffe für ihn nicht nur ein lästiges Anhängsel zu sein, dass man ruhig stellen kann, wenn man ihm dreimal im Jahr Honig ums Maul schmiert.

Erwartungsvoll stecke ich meine Hand in die Verpackung und stoße mit meinen Fingerkuppen an einen runden, hölzernen Gegenstand. Ein wenig verwirrt ziehe ich ihn heraus und betrachte die kleine Holzspieluhr, die ich nun in den Händen halte.

Die pinke Farbe, mit der ich sie als ich sechs war, bemalt habe, ist bereits ein wenig verblasst und eröffnet mir so einen Blick auf das weiße Holz darunter. Sanft streiche ich mit dem Daumen über das Kinderspielzeug. Mit zwei Fingern beginne ich an der Kurbel zu drehen. Sobald ich einige Sekunden lang gekurbelt habe, ertönt eine sanfte Melodie und die Ballerina, die obendrauf positioniert wurde, beginnt mit ihrem immer gleichen Tanz.

Plötzlich sehe ich mein jüngeres Selbst, mit der bunten Zahnspange und den zwei Zöpfen, mit meinem Vater in seiner Werkstatt. Er ist gerade dabei die Tänzerin vorsichtig auszusägen, während ich auf meinem kleinen Stuhl daneben sitze und nicht nur das Holz, sondern auch mich selbst, mit knallpinker Farbe beschmiere. Immer wieder luge ich zu ihm herüber und sehe ihm, dann für einige Sekunden staunend dabei zu wie er die filigrane Arbeit ausführt, bevor ich mich wieder stolz meinem eigenen Werk widme.

Ich habe völlig vergessen, dass er sie hatte. Wahrscheinlich hat er sie mitgenommen, als er ausgezogen ist und hat möglicherweise auf den richtigen Tag gewartet, um sie mir zurückzuschicken. Schon immer war sie für mich das Zeichen unserer Vater-Tochter-Liebe, die ich seit Jahren verdrängt habe.

Auf einmal völlig ruhig lege ich den Kopf auf den Tisch und ließe die Augen, während ich die Musik in mich aufsauge, als wäre sie für mich lebenswichtig.

Bald nehme ich weder das kalte Glas unter meiner Wange, noch das Vibrieren meines Handys wahr. Nur das sanfte Gedudel findet meine Aufmerksamkeit und bahnt sich einen Kopf in mein Gehirn, während ich mich wie in einem Traum an meine Kindheit zurückerinnere.

East Kids - Tessa & Elijah | ✔️Where stories live. Discover now