track 1

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Disc 1
Track 1 - What Makes You Beautiful
» being the way that you are is enough «
HARRY
im ersten Jahr nach der Trennung von One Direction

Es war Winter geworden. Um den Randstein hatte sich der erste Frost gebildet, Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel. Die Stadt war von einem Nebelschleier durchzogen und in der Ferne schaltete eine Ampel auf Grün. Abermals starteten die Motoren an und erfüllten die Luft mit dem altgewohnten Großstadtlärm. Seufzend drückte ich die Zigarette mit dem Absatz aus und warf einen kurzen Blick auf meine Uhr. Ich war spät dran.

Ich zog mich unter der Nische einer Bäckerei zurück, um dem Schneechaos auch nur irgendwie zu entkommen und tippte eilig die Nummer meines neuen Managers auf meinem Handy ein. Immerhin hätte der mich bereits vor rund zwanzig Minuten abholen sollen. Dabei wischte ich die Nachricht von Niall beiseite, ohne sie überhaupt erst angesehen zu haben. Er sollte sich langsam mit der Trennung abfinden, denn schließlich hatten ich und die anderen drei das bereits seit Monaten getan.

„Hey, wo bleibst du?", sagte ich in der Sekunde, in der der Verbindungston aussetzte, missmutig in den Hörer. Mit der anderen Hand zog ich währenddessen meinen Kragen etwas weiter über mein Kinn. „Es tut mir so leid, Harry", kam es daraufhin vom anderen Ende der Leitung, „ich stecke mitten in der Innenstadt fest. Es staut kilometerlang und ich kann dir nicht sagen, wie lang ich hier noch stehen werde. Am besten du rufst dir ein Taxi oder nimmst die U-Bahn."

Ich atmete tief durch. Ich befand mich in London und das auch noch in der Woche vor Weihnachten. Es hätte mich eigentlich nicht wundern sollen, dass es staute. „Alles gut, wir sehen uns", meinte ich daher knapp. Wir verabschiedeten uns voneinander und ich versuchte, Überblick über die Verkehrssituation zu gewinnen. Auch, wenn ich direkt neben der nächsten U-Bahnstation stand, war diese Option für mich ausgeschlossen. Die U-Bahnen in London waren immer gestopft voll und ich wollte gar nicht wissen, wie es heute war. Schließlich tummelten sich die Menschen schon hier auf der Straße in Massen an mir vorbei.

Ein Taxi zu erwischen war in London dafür nicht ganz so einfach. Zwar hielten sie in ständiger Reichweite am Straßenrand, fuhren jedoch entweder gerade weg oder waren bereits auf einen anderen Gast reserviert. Ziellos warf ich mich ihnen vor die Motorhaube, nur um daraufhin angehupt oder abgewunken zu werden. Die Zeit lief mir allmählich davon.

Nach etlichen Fehlversuchen hatte ich es dann schließlich doch noch geschafft, ein freistehendes Taxi zu finden. Erleichtert legte ich meine Hand auf die Hintertür. Ich wusste nicht warum, aber ich war nur ungerne Beifahrer.

Ich zog die Tür gerade in vollem Schwung auf, als ich noch rechtzeitig bemerkte, dass da eine junge Frau stand, der ich sie beinahe auf die Stirn geschlagen hätte „Oh Gott, Verzeihung", entschuldigte ich mich umgehend und wandte mich ihr zu. In dem ganzen Geschehen wirkte sie mit ihrem schwarzen Blazer, der hochgeschlossenen Bluse und den Schneeflocken in ihren blonden Locken komplett unscheinbar. Ihr Blick wechselte zwischen dem Taxi und mir hin und her, „schon okay." Angespannt umklammerte sie den Starbucksbecher in ihrer Hand ein wenig fester. Es war offensichtlich, dass sie genau wie ich dieses eine Taxi angesteuert hatte.

„Wo musst du hin?", fragte ich sie, woraufhin der Taxifahrer hupte und mir zurief, dass ich mich ein bisschen beeilen sollte. „Liverpool Street", erwiderte sie kaum hörbar, „aber wie gesagt, es ist schon okay." Unsicher sah sie sich um und stellte fest, wie ihr ein Taxi nach dem anderen vor der Nase davonfuhr. „Ich muss in den Wirtschaftssektor, es würde also auf der Strecke liegen." Noch während ich das sagte, stahl sich ein hoffnungsvolles Lächeln auf ihre Lippen. „Wirklich?" Ich nickte und hielt ihr die Tür auf, „wenn du möchtest, kannst du gerne mitfahren." Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Dankend stieg sie in das Auto, wenige Sekunden später ließ ich mich einen Sitz von ihr entfernt ebenfalls nieder. Ich beugte mich zwischen die Vordersitze und sagte dem Fahrer unser Ziel an.

Schweigend starrten wir nebeneinander vor uns hin. Die Stimmung war angespannt, aber ich hatte es mir gar nicht anders erwartet, denn schlussendlich waren wir beide nicht mehr als zwei Fremde auf derselben Rückbank. „Ich hoffe, ich bereite dir wirklich keine Umstände." Überrascht drehte ich meinen Kopf in ihre Richtung. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich fest davon ausgegangen, dass wir die Fahrt totschweigen würden.

Sie erwiderte meinen Blick nicht, sondern schaute weiterhin aus ihrem Seitenfenster. „Das machst du nicht", entgegnete ich. „Ja? Die Leute hier sind also tatsächlich so freundlich, wie alle sagen. Ich glaube, ich werde mich nie so ganz an diese Stadt gewöhnen", meinte sie lächelnd.

Ich fragte sie, woher sie kam und sie erzählte mir eine Geschichte von einer insolventen Farm, viel zu vielen Schwestern und dem großen Traum von der Metropole. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich es tatsächlich einmal hierherschaffen würde", neigte sie sich dem Ende zu. Kurz sah sie zu mir rüber, drehte sich aber einen Atemzug später auch schon wieder von mir weg. Ihre Augen glitten den Boden entlang, während sie nervös die Lippen zusammenpresste.

„Nicht nur du", meinte ich schließlich. Als sie mich dann fragte, welchen Traum ich mir etwa erfüllt hätte, wusste ich zunächst nicht, was ich antworten sollte. Offensichtlich wusste sie nicht, wer ich war - oder besser gesagt - sie kannte meinen Namen nicht. „Ich arbeite in der Musikbranche. Davor habe ich einer Bäckerei gearbeitet und habe nebenbei versucht, auch nur irgendwie meinen Schulabschluss zu packen", sagte ich daher. Noch bevor sie nachhaken konnte, fügte ich ein „und du?" daran. „Ich habe vor ein paar Monaten begonnen, in einem Hotel zu arbeiten. Am Anfang dachte ich zwar, dass ich den Ansprüchen dort nie gerecht werden würde, aber mittlerweile liebe ich es dort. Auch wenn es wirklich nicht immer leicht ist." Sie kämmte sich mit den Fingern grob durch ihr Haar und nippte zaghaft von ihrem Strohhalm.

Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass ich seit der Abfahrt kein einziges Mal von ihr weggeschaut hatte. Ich lehnte mich gegen die Fensterscheibe und fuhr mir verlegen mit dem Daumen über meine Unterlippe. Ihre Art hatte etwas an sich, das mich nicht in Ruhe ließ. Ich mochte ihre stille, positive Energie und wie sie Kleinigkeiten zu schätzen wusste. Ich mochte sogar, dass sie ihre Sommersprossen und ihre Augenringe nicht unter einer Schicht Schminke versteckte. In einer Welt voller Selbstinszenierung waren Menschen wie sie mittlerweile viel zu selten.

Allmählich bog der Fahrer in unsere Zielstraße ein. Ich streckte meinen Rücken gerade und blickte durch das Fenster auf das Stadtviertel und seine markanten, verglasten Wolkenkratzer. Je länger ich sie ansah, desto nervöser wurde ich. Obwohl die Trennung der Band erst wenige Wochen her war, stand bereits heute ein wichtiger Termin für meine anstehende Solokarriere an.

Der Taxifahrer bremste ab. „Das wären dann achtundzwanzig Dollar, bitte", verlangte er, wobei ich nicht anders konnte, als meine Augen zu verdrehen. Mit den Preisen übertrafen sie einander doch Mal für Mal. „Geht auf mich", meinte ich, als ich bemerkte, wie sie in ihrem kleinen Portemonnaie nach Münzen pickte. Sie sah zu mir auf und schüttelte bestimmt den Kopf. „Das ist wirklich lieb von dir und ich schätze es unglaublich, aber ich will das nicht. Wir kennen uns ja nicht einmal." Diesmal hielt sie meinem Blick stand. Dennoch winkte ich ab, reichte dem Fahrer meinen Schein und sagte ihm, er könne sich den Rest behalten.

„Ich muss da lang." Ich zeigte in Richtung der Wolkenkratzer, währenddessen wir gemeinsam zur Hauptstraße gingen. Sie folgte meinem Blick und deutete mit dem Daumen zurück über ihre rechte Schulter, „und ich muss dort lang." Der Wind wehte ihre langen Haare in ihr Gesicht und sie musste sich bemühen, nicht die Augen zusammenzukneifen. „Vielleicht sieht man sich ja irgendwann mal wieder", erwiderte ich.

Sie setzte dazu an, sich umzudrehen, doch ich hielt sie zurück. Fragend sah sie zu mir auf, „ja?" Ich deutete auf den Starbucksbecher in ihrer Hand. „Kann ich den vielleicht haben?" Sichtlich verwirrt wich sie meinem Blick aus. „Er ist schon fast leer, aber wenn du unbedingt willst, hier, bitte." Sie reichte mir den Becher und wir verabschiedeten uns ein zweites Mal.

Während ich mich viel zu verspätet auf den Weg zu meinem Termin machte, drehte ich den Becher in meiner Hand leicht zur Seite. Auf dem weißen Pappkarton stand mit schwarzem Edding ein Name geschrieben. Ihr Name.

Sie hieß Estelle.

half blue skies | 𝐨𝐧𝐞 𝐝𝐢𝐫𝐞𝐜𝐭𝐢𝐨𝐧Where stories live. Discover now