track 4

170 16 24
                                    


Disc 1
Track 4 - More Than This
» I'm praying that your heart will just turn around «
NIALL
im ersten Jahr nach der Trennung von One Direction

Ich drückte die Lamellen herunter und ließ das Sonnenlicht in den Raum strömen. Es blendete mich stark, aber das störte mich nicht weiterhin. Stattdessen dachte ich, dass der Sommer vielleicht doch nicht mehr so weit entfernt lag wie alle sagten. Ich seufzte, drehte meinen Kopf auf die Seite und starrte in leere, ausdruckslose Augen. Das ausgeblichene Haar fiel tief in mein Gesicht und berührte beinahe meine Nasenspitze. Wer auch immer diese Person im Spiegel war, ich erkannte sie nicht.

Ein weiteres Mal brach mein Handywecker die Stille. Blindlings langte ich nach meinem Kissen, das ich in der Nacht in meinem Bett verloren hatte. Ich schlug es mir um den Hinterkopf und drückte es so fest es ging an beide Ohren, um die unerträgliche Melodie zwischen den Federn zu ersticken. Lange hatte ich keine Entscheidung mehr derart bereut, wie die, nach Irland zurückgekommen zu sein.

In meinem Kopf schwirrte noch immer der gestrige Videoanruf mit Emma. Es war so schön gewesen, sie wiederzusehen. Noch schöner war es gewesen, zu sehen, dass sich in all den Jahren Funkstille kaum etwas zwischen uns geändert zu haben schien. Da waren noch immer dieselben bunten Haarspangen zwischen ihren Strähnen und dieselben ausgewaschenen Festivalbänder an ihren Handgelenken und sie fand nach wie vor auf jeden meiner Sprüche einen schlagfesten Konter. Aber mein Leben wäre nicht meins, hätten sie nicht auf einmal Männerarme um Emmas Nacken geschlungen. Männerarme in einer Lederjacke, mit markanten Tattoos auf den Händen und silbernen Ringen an den Fingern. Noah.

Missmutig rappelte ich mich aus meinem Bett und stolperte in Richtung Badezimmer. Ich musste aufpassen, nicht gegen den Türrahmen zu laufen. Der Schlafentzug hatte meinen Verstand zur Gänze in Konsum genommen.

Mit einer groben Handbewegung klappte ich den Drehspiegel auf seine Rückseite. Dann beugte ich mich über das Spülbecken, langte nach der Dose am Beckenrand und versuchte, sie mit aller Kraft aufzuschrauben. Meine Hände zitterten, die Pillen prallten gegen die Innenseite der Verpackung. Ich nahm einen tiefen Atemzug, doch auch dann schaffte ich es noch immer nicht, meine Nerven unter Kontrolle zu halten. Mein Unterarm rutschte vom Beckenrand ab, die Dose fiel und die Medikamente bahnten ihren Weg direkt in die Spüle.

„Fuck", fluchte ich und versuchte verzweifelt, mit meinen Händen noch die ein oder andere Pille zu retten. Auch wenn ich nicht viele erwischte, waren es zumindest noch genug, um bis Ende der Woche auszukommen. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und eine Pille auf meine Zunge und spülte sie danach mit der offenstehenden Mineralflasche in meinen Magen. Wie lange die Flasche schon am Fensterbrett gelegen hatte, wusste ich nicht, aber das Wasser schmeckte warm und sauer.

Ein paar Minuten später saß ich in meiner Garderobe und war dabei, mir unordentlich die Schnürsenkel meiner Converse um meine Knöchel zu binden. Die Klamotten an meinen Körper trug ich schon seit gestern, doch ich hoffte, dass das durch etwas Aftershave niemandem auffallen würde.

Draußen war es kälter als erwartet. Die Straßen waren leer, die Sonne, die mir vorher noch ins Gesicht gestrahlt hatte, war nun von einer dicken Wolkenschicht verdeckt. Kalte Böen wehten mein Haar aus meiner Stirn und bereiteten mir am ganzen Körper Gänsehaut. Seufzend verschränkte ich die Arme vor meinem Oberkörper. Natürlich hatte ich es nicht für nötig gehalten, eine Jacke anzuziehen.

Flynn lebte nur wenige Seitenstraßen von meiner neuen Wohnung entfernt. Als viertes Mitglied machte er mit Noah, Emma und mir unsere Schuldband aus der Oberstufe komplett. Wir waren eine eingeschworene Clique gewesen, die nichts und niemand einfach so hätte auseinanderbringen können. Zumindest war das die Scheinillusion gewesen, in der wir gelebt hatten. Denn meine Bewerbung bei The X Factor hatte mich innerhalb weniger Monate aus Flynns kleinem Heimatstudio auf Bühnen rund um den Globus katapultiert. Auf einmal war ich überall, nur nicht hier und so ähnlich war es auch mit unserer Freundschaft gewesen.

Ich nahm einen tiefen Atemzug, als ich mit dem Zeigefinger auf die Klingel drückte. Ich hatte noch nicht einmal ausgeatmet, da öffnete sich die Tür und Flynn fiel mir um den Hals. „Hey du", begrüßte er mich und drückte mich fest an sich. Unsicher legte ich meine Hände auf seinen Rücken und starrte über seine Schulter hinweg in die Leere. Er fühlte sich irgendwie fremd an. Deswegen war ich auch irgendwie erleichtert, als er wieder von mir losließ. „Willkommen zurück, Nialler." Sein unverkennbares Grinsen zog sich über sein gesamtes Gesicht und doch fiel es mir unglaublich schwer, mich über unser Wiedersehen zu freuen. Dabei hatte ich so lange auf diesen Tag gewartet. „Ich bin echt froh, endlich wieder da zu sein", stammelte ich und rang mir ein krampfhaftes Lächeln auf, wohingegen Flynns Grinsen sich zu einem besorgten Gesichtsausdruck verzog. „Alles okay mit dir? Du wirkst ja komplett neben der Spur." Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe mich die Woche nur ein wenig übernommen, das ist alles", redete ich mich raus. Daraufhin legte Flynn seinen Arm um mich und nickte in Richtung Garderobe, „na, wenn das so ist, los und rein mit dir. Den Weg kennst du ja."

Seite an Seite betraten wir den Flur. Bereits nach wenigen Schritten ließ ich Flynn vorgehen, ich kümmerte mich nicht einmal darum, die Tür hinter mir zuzumachen. Der Wind würde sie schon von allein zustoßen. Also ging ich ihm hinterher - durch das Wohnzimmer und die Küche und anschließend hinab in den Keller. Mit jedem Meter schnürte sich mein Herz etwas enger zusammen.

Flynns Keller war schon immer völlig anders als alle anderen gewesen. Er war hell gestrichen, an den Wänden hingen unzählige Fotos. Während auf der einen Seite eine Bar mit Hockern aufgestellt war, hatte sich Flynn auf der gegenüberliegenden Seite über die Jahre hinweg sein eigenes kleines Musikstudio eingerichtet. Mittlerweile sah es um einiges professioneller aus als früher und doch erinnerte mich alles an die Nächte, in denen zu viel Alkohol geflossen ist und zu laute Musik aufgedreht worden war.

„Nialler!"

Mein Atem setzte aus, als ich Emmas Stimme hörte und sie keinen Augenblick später auf mich zulaufen sah. Lächelnd schloss ich sie in meine Arme. Schließlich kam auch Noah dazu, der im Gegenteil zu Flynn und Emma wie ein anderer Mensch wirkte. Tattoos zogen sich von seinen Fingerspitzen über seinen Nacken, seine Haare waren dunkler getönt und in seinem Gesicht prangerten mehrere Piercings. Seine Hände hatte er desinteressiert in die Taschen seiner schwarzen Jeans geschoben und seine Augen wanderten abwertend über meinen Körper. Ich sah von ihm weg.

Langsam löste ich mich von Emma und schaute in ihre strahlend grünen Augen. Ich sagte nichts, sondern stand einfach nur da und fragte mich, wie sie mich wohl ansehen würde, wenn ich es damals geschafft hätte, ihr zu sagen, was ich für sie fühlte.

Dann legte Noah seine Hand auf Emmas Schulter und drückte sie unsanft ein Stück von mir weg. Trotz unserer damaligen Freundschaft würdigte er mich keines Blickes. Stattdessen legte er provokant seine Arme um Emmas Hüfte und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Seit wann läuft eigentlich was zwischen den beiden?", flüsterte ich Flynn, der immer noch neben mir stand, zu. Ich hörte, wie er laut durchatmete. „Sie sind jetzt seit ein paar Monaten zusammen, aber laufen tut da auf jeden Fall schon länger was. Du warst lange nicht hier."

Um die Stimmung auch nur irgendwie zu lockern, schlug Flynn vor, ob wir uns nicht im Studio zusammensetzen wollten. Schlussendlich hatten wir uns in erster Linie auch gerade deswegen verabredet, um ein paar unserer alten Lieder zu spielen und vielleicht auch neu aufzunehmen. Kurzerhand ging ich zu den Instrumenten, die der Reihe nach aufgestellt waren. Zu meiner Überraschung stand meine alte Gitarre noch exakt an dem Platz, an dem ich sie damals zurückgelassen hatte. Ich zog sie hervor und wand sie fasziniert in alle Richtungen.

Unter einem tiefen Seufzer ließ ich mich auf einen der Drehstühle fallen und schraubte an den Wirbeln herum. Hin und wieder sah ich von meiner Gitarre zu Noah und Emma auf, die auf der Couch gegenüber saßen. Emma zeigte ihm auf ihrem Handy etwas, das sie offensichtlich lustig fand, während er eine Nachricht tippte und alibimäßig vor sich hin nickte.

Ich begann, eine unbestimmte Melodie vor mich hinzuspielen.

half blue skies | 𝐨𝐧𝐞 𝐝𝐢𝐫𝐞𝐜𝐭𝐢𝐨𝐧Where stories live. Discover now