83. Stille

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Es ist unglaublich, dass das, das letzte Kapitel ist.

Aspen Rivers

"Was machst du hier?" Offensichtlich ist meine Frage an Jackson gerichtet, hingegen ich meinen Blick nicht von Sloan los bekomme. Sie sitzt einfach in dem Sand neben ihrem Vater und es macht mich verrückt nicht zu verstehen, was sie sagt. Denn das tut sie. Unter Tränen, die mir mein Herz bei lebendigen Bewusstsein aus der Brust reißen.

Ich hatte gedacht sie bereits vorhin verloren gesehen zu haben, als sie auf den Boxsack eingeschlagen hat. Ihre Schläge hätten niemanden wehgetan und doch zerriss es sie. Sie und all die Emotionen die sie bis dahin versteckt hatte. Verdrungen. Aber das hier – ich habe das Gefühl sie bei dieser einen Sache nicht zusammenbauen zu können. Nicht, wenn ich selbst das Gefühl habe bei ihrem Anblick auseinanderzureißen.

"Ich wollte ein letztes Mal hier sein."

Mein Halbbruder tritt neben mich, als ich mich ihm immer noch nicht zuwende, sondern auf die verkrampften Hände von Sloan achte, die sie in ihre Kleidung rammt. "Du willst also abhauen?" So viel Härte wie ich benutze, lässt mich nicht wundern, dass er zusammenzuckt und seinen Blick abwendet. Auf Sloan, die nun das erste Mal zu ihrem Vater schaut.

Ich kann und möchte mir ihren Schmerz nicht vorstellen, aber ich glaube ihn selbst wieder zu spüren, als mir der Verrat von Jackson bewusst wurde. Ich war es der ihm das Fahrradfahren beibrachte. Ich war es der ihn zum Kindergarten hin brachte und später wieder abholte. Ich habe mit ihm das erste Mal Plastik angezündet, habe mit ihm jeden Fleck dieser Stadt erkundet und ihm versucht alles beizubringen. Aber ich habe es nie geschafft meinen Vater zu ersetzten, der ihn ignoriert hat oder seine Mutter dazu zu bringen, sich um ihn zu sorgen. Man könnte Mitleid haben. Alle außer mir, weil ich ihm so viel gab und er sich alles und noch mehr nahm. Selbst meinen Glauben in ihn.

Es wird einem oft beigebracht zu vergeben, denn vergeben bringt einem selbst Frieden. Nur glaube ich jetzt gerade nicht daran, dass ich es ihm jemals vergeben könnte. Er hat nicht nur ein Leben zerstört. Er nahm mir meins und meine Zukunft, er nahm Natalies und Coreys und all den Menschen, dessen Drogenabhängigkeit von ihm unterstütz wurde. Menschen wie Sloans Vater.

"Es war Keatons Idee." Ich schnaube auf und betrachte den zitternden Körper von Sloan. So gerne würde ich einfach nur zu ihr. So gerne würde ich sie einfach in meine Arme schließen und nie wieder loslassen, nie wieder schmerzen zulassen, aber ich kann nicht. Noch nicht, denn das ist ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft. Ihr Vater. Sie würde gerade nicht einmal einen Halt verspüren, wenn ich es bin der sie hält. Das muss er tun. Oder sie selbst.

"Es war klar, dass du feige genug bist, um zu fliehen." Um Keaton geht es mir hier nicht. Wenn er abhaut, ist es ein Segen. Er soll rennen solange er noch kann. Von mir aus soll er selbst von vorne anfangen, aber er sollte Sloan nicht mehr zu nahe kommen. "Ich fliehe nicht."

"Nicht?!" Es ist das erste Mal das ich ihn anschaue und ich könnte kaum wütender sein – wenn er nicht aussehen würde wie ein kleiner Junge. Wie ein getretener Junge.

Wie Jamie, wenn er weiß, dass er Mist gebaut hat. Wie Jamie, wenn er einen Alptraum hatte und glaubt ihn noch immer zu haben. Wie Jamie, wenn er bemerkt, dass ich gehen muss oder das Natalie nicht nachhause kommt. Wie Jamie.

Es ist genau der Blick, der mich alle Zweifel beiseiteschieben ließ. Der mich den Glauben und das Hoffen an meinen Bruder aufgeben ließ, weil ich nie wieder solch einen Schmerz fühlen lassen wollte. Und ich dachte ich würde es nie wieder fühlen. Bis jetzt.

Mir wird mehr als schmerzlichst bewusst, dass er immer ein Teil von mir sein wird und ich immer einen winzigen Teil in ihm als nicht Monster entziffere. Der Teil der noch nicht in ihm gestorben ist. Der Teil den ich mit damals verknüpfe und nicht mit morgen.

Wenn wir schweigenWhere stories live. Discover now