Kapitel 24

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Isabelle hatte das Shirt bis über ihre Nase gezogen und sah hinaus. Der natürliche Duft von Dag klebte daran und sie sog jeden Hauch in sich ein.

Mit ihrem Daumen und Zeigefinger der linken Hand drehte sie immer wieder den Kaugummiautomaten-Ring, während sie vor lauter Nachtschwärze nichts mehr draußen erkennen konnte.

Die erste Stunde hatte sie noch die Kraft gehabt zu schreien, doch mittlerweile war selbst ihre Stimme verstummt und ihr Hals tat weh.

Zusammengekauert hockte sie in ihrer Ecke, während ein Freund und Kollege ihres Vaters den Wagen fuhr und sich mit ihm lautstark unterhielt.

Moritz saß neben ihr und warf ihr ab und an einen angesäuerten Blick zu, ansonsten war er still.

Ihr Handy hatte sie liegenlassen. Genauso wusste sie, dass ihr Koffer noch im Flur stand, denn ihr Vater hatte sich vorhin mit Moritz darüber unterhalten.

Doch all diese Sachen waren ihr egal.

Sie wollte zurück.

Nach Berlin.

Zu ihren Freunden.

Und das Wichtigste überhaupt. Zurück zu Dag.

Dass sie ihn vielleicht nie wieder sehen würde, schmerzte so sehr, dass sie das Gefühl hatte, ein Teil von ihr selbst hätte man ihr mit einer glühend heißen Klinge herausgeschnitten.

Sie zog die Lippen ein und weinte fast lautlos.

Ein kräftiger Faustschlag traf ihren Oberarm. »Jetzt halt endlich dein Maul Isabelle. Ich weiß gar nicht, für was du flennst.« , maulte ihr Bruder. »Du kannst froh sein, das wir dich aus dieser Muchtbude herausgeholt haben.«

»Froh sein? Ihr habt mein Leben zerstört.« , krächzte sie.

Moritz belächelte ihre Aussage. »Zerstört?!«

Sie wollte noch etwas dazu sagen, aber bemerkte jetzt erst das Blut an den Fingerknöcheln ihres Bruders. »Du hast ihn geschlagen.« , ertönte ihre Stimme erneut, als hätte sie drei Nächte durchgesoffen.

Moritz besah Abscheu empfindend seine Hand. »Schon peinlich, wenn der Typ direkt zu Boden geht.«

»Du hast ihn ja auch unerwartet getroffen.«

Moritz lachte laut los. »Du denkst, ansonsten hätte dieser Schmachtlappen eine Chance gegen mich gehabt?«

»Fühlst du dich etwa stark? Du bist einfach nur peinlich.«

»Peinlich? Soll ich dir sagen, was peinlich ist Isabelle?« Er zeigte drohend mit dem Finger auf sie. »Das du so eine Schlampe geworden bist, das du Sex mit einem Typen hast, während die anderen ein Zimmer daneben vor der Playstation hocken. Oder warte mal ... haben die Nümmerchen gezogen und haben wie in einem Wartezimmer darauf gewartet, wer als Nächstes aufgerufen wird?«

Empört, das er so etwas gesagt hatte, starrte sie ihn an.

Ihr Vater unterhielt sich derweil weiter mit seinem Freund, als wäre es eine normale Autofahrt.

»Ich bedauer' dich.« , sagte Isabelle.

»Was?« Moritz hielt eine Hand an sein Ohr, als hätte er sich verhört. »Wiederhol' das bitte.«

»Du hast mich schon verstanden. Ich empfinde tiefes Mitleid mit dir.«

»Du mit mir? Weshalb?«

»Das du anscheinend so ein unbefriedigtes Sexleben hast, das du denkst, andere schlechtzumachen würde deine Selbstwahrnehmung pushen. Aber glaub mir Moritz, das wird dir auch keine Befriedigung beschaffen.«

Moritz schnalzte mit der Zunge und ehe Isabelle es hätte kommen sehen, traf die Ohrfeige sie hart, so das ihr Kopf dabei gegen die Scheibe knallte.

Ihr Vater drehte sich nicht einmal um.

Das war schon immer so gewesen. Moritz war der Älteste unter den drei Geschwistern. Isabelle, das Nesthäkchen. In der Mitte gab es noch ihre Schwester Marleen, die gegenwärtig einundzwanzig war. Und Mal für Mal wenn Moritz was gesagt hatte, mussten die beiden Jüngeren drauf hören.

Für Marleen war das keine Schwierigkeit. Sie war eh nie diejenige, die Probleme bereitete, das war von klein an Isabelle gewesen.

Ob es die Schule war, oder die Jungs, die sie mit nach Hause gebracht hatten. Marleen bestand die Schulzeit mit Bravour und war von jung an mit dem Sohn eines Arbeitskollegen ihres Vaters zusammen. Ein anständiger Kerl. 

Manche – insbesondere Isabelle – hätten ihn als Langweiler bezeichnet, was er auch war, denn außer sich von Marleen bedienen lassen, tat er nicht viel. Ah doch, er ging fremd. Das wusste Isabelle, das wusste Moritz, ihre Eltern, sogar Marleen war sich darüber im Klaren, aber irgendwie, war das für niemand ein Problem. Er blieb in ihren Augen, anständig.

Wenn Isabelle jedoch mit einem Jungen ankam, der anständig war, im Gegensatz dazu nicht anständig aussah, wie ihre Familie das bezeichnen würden, wurde daraus ein Staatsakt gemacht.

Egal, was sie tat, wurde stets auf die Goldwaage gelegt. Das war auch einer der Gründe, weshalb sie entschied wegzulaufen. Sie hat sich noch nie als richtiger Teil der Familie angesehen. Was sie aber auch nicht als schlimm empfand.

Ihre Eltern mussten es schon vorher geahnt haben, dass sie aus der Reihe tanzen würde, denn nicht umsonst fangen alle Familienmitglieder mit dem Buchstaben M an, außer Isabelle.

Mit einer zitternden Unterlippe sah sie zu Moritz, der sie gar nicht mehr beachtete.

»Ich hasse dich.« , sagte sie voller Abscheu. »Ich hasse euch alle.«

Jetzt drehte ihr Vater sich zu ihr um. »Was meinst du, wie egal mir das ist Isabelle.«

ᵘᶰᵈ ʷᵃʳᵘᵐ ʰᵒˡᵗ ᶤʰʳ ᵐᶤᶜʰ ᵈᵃᶰᶰ ᵈᵃ ʷᵉᵍ, ʷᵉᶰᶰ ᶤᶜʰ ᵉᵘᶜʰ ˢᵒ ᵉᵍᵃˡ ᵇᶤᶰ.

»Deinem Blick zu urteilen, denkst du dir, wieso wir dich dann nach Hause holen ... das ist ganz einfach. Ich gebe mir nicht die Schmach, das eins meiner Kinder heruntergekommen in der Gosse lebt.«

»Ich lebe nicht in der Gosse. Mir geht es super.« , pfefferte Isabelle los. »Ich hab eine tolle Wohnung. Super Freunde. Einen fantastischen Job und einen ultrakrassen abgefahrenen heißen Freund, den ich über alles liebe und der mich auf die gleiche Art und Weise liebt und respektiert. Aber ihr werdet so etwas niemals verstehen, weil ihr diese Form gar nicht kennt.«

»Siehst du, das ist, was ich meine?!« , gab Moritz mal wieder seinen Senf dazu. »Marleen hätte sich niemals gewagt, jetzt den Mund aufzumachen, aber die da ... die weiß gar nicht, wann Sense ist.«

»Damit ist jetzt eh Schluss. Von nun an werden andere Seiten aufgezogen. Du kannst froh sein, dass ich nützliche Beziehungen habe. Als Erstes, wirst du dein Abitur beenden und danach ...«

Isabelle hörte gar nicht mehr zu, als ihr Vater seine weitere To-do-Liste für seine Tochter aufzählte.

Es war ihr eh egal, weil sie wusste, dass sie niemals kuschen würde. Erst Recht jetzt nicht, wo sie meinten ihr das Wichtigste überhaupt zu nehmen.

Dag.

Nicht immer drauf, doch für immer auf dir (Band 1)जहाँ कहानियाँ रहती हैं। अभी खोजें