Kapitel 95

149 17 0
                                    

Es war mittags. Vincent hakte die vorletzte Adresse ab und legte den Zettel auf den Beifahrersitz, bevor er wieder losfuhr.

Bisher war er nicht weitergekommen und er war sich auch gar nicht mehr sicher, ob er Hannahs Hinweis richtig verstanden hatte. Keiner der angegeben Katjuschkas konnte ihm Auskunft über eine Katja geben ... und es blieb nur noch eine übrig.

Er hielt an der Ampel und checkte sein Handy. Dag hatte ihm geschrieben, dass er heut am Tagesende zu Andi in die Bar wollte.

Vincent wusste, nach dem gestrigen Abend, dass es nichts mehr nutzen würde, ihm irgendwas auszureden. Dag machte eh das, was er wollte ... und lieber hatte Vincent ihm im Blick, als das er sich zu Hause wieder irgendwas reinpfeift.

Seine Angst war eher, dass er auch bei Andi randalieren würde, so wie gestern auf der Bühne. Er hätte ihn erst gar nicht dazu zwingen sollen. Vincent wusste innerlich, dass Dag gar nicht in der Verfassung war, richtig zu performen ... und doch wollte er einfach professionell sein.

Andere Künstler müssen auch ihre privaten Probleme verschleiern und auf Knopfdruck funktionieren.

Vincent wählte Andis Nummer und stellte den Lautsprecher an, während er das Handy wieder auf den Beifahrersitz legte. »Hey Andi. Ich bin es Vince. Hömma ... wir wollten heut Abend vorbeikommen, kannst du irgendwie mit drauf achten, das Dag sich nicht die Birne wegkippt?«

»Kann ich machen Jung, aber ... ich weiß doch schon das ihr kommt.«

»Von?«

»Dag. Er hatte mich angerufen in der früh. Er fragte, ob er heut auftreten kann.«

Vincent runzelte die Stirn. »Sicher, dass du ihn richtig verstanden hast?«

»Klar.«

»Er hat also gefragt, ob wir heut dort spielen können?«

»Nein.« , gab Andi von sich. »Er fragte, ob er heut auf die Bühne kann.«

»Ehm ... okay. Ehm Andi, ich klär das noch genauestens ab. Ich geh nämlich nicht davon aus, dass Dag in der nächsten Zeit auf 'ner Bühne stehen wird.«

»Oh. Ist was geschehen?«

»Er hatte gestern einen kleinen Ausraster, aber ... ich bekomm das schon hin.«

»Denkst du eigentlich auch mal an dich? Ja Dag ist dein Freund, aber du musst auch ein bisschen egoistisch sein. Du kannst nicht alles für ihn regeln. Er muss lernen, dass schlimme Dinge geschehen.« , sprach Andi. »Es ist unfair und schrecklich, aber irgendwann wird er feststellen, das sowas leider gelegentlich passieren muss. Nur so entwickelt man seine eigenen Stärken.«

»Ich weiß, was du meinst, aber er ist mein bester Freund ... und Freunde sind füreinander da.«

»Du sollst ja auch für ihn da sein Vince, aber du bist kein Zauberer. Du kannst seine Sorgen nicht verschwinden lassen.«

»Aber sie mildern ... und wenn ich Isabelle gefunden habe, werde ich sie mir auf die Schulter packen und keine Ausrede mehr zulassen.«

»Ich drück dir die Daumen Jung. Bist du denn mittlerweile auf 'ner heißen Spur?«

»Ich hoffe es.« Vincent hatte keine Lust, Andi zu sagen, dass er nur noch eine Person auf seiner Liste hatte und das er danach wieder bei Null anfangen müsste.

Zudem hatte er nicht mal eine Ahnung davon, was sein nächster Schritt hätte sein können. Ihm fiel nichts mehr ein ... außer, das er sich nochmal an Hannah wenden müsste. Aber wer wusste schon, ob sie ein weiteres Mal dazu bereit wäre, ihm zu helfen.

»Na jut Jung, dann will ich dich mal nicht länger aufhalten. Wir sehen uns dann heut Abend.«

»Ja bis dann. Tschau.« Vincent drückte auf den Knopf um aufzulegen und fuhr dann rechts in eine Straße hinein.

An diesem Ort war er natürlich auch schonmal gewesen, als er auf der Suche nach Katja war.

Hier war eine kleine Bäckerei und die Inhaberin, eine ältere Frau in den sechzigern, hieß Katjuschka Hofmann. Er erinnerte sich noch gut an sie, weil sie sehr freundlich war und wollte, dass er fast alles im Laden mal probierte.

Vincent sah sich nach einem Parkplatz in der Nähe um. Er wusste noch vom letzten Mal, wie schwer es war, hier etwas zu finden. Mit Bedacht fuhr er raus und umkreiste das Gebäude erneut, bevor er wieder in die Straße einfuhr.

Das wiederholte er sechsmal hintereinander, bis er schließlich Glück hatte und ein älterer Herr gemächlich zu seinem Wagen schlurfte.

Vincent blieb stehen und sah dem Mann zu, wie er gemütlich seinen Wagen erreichte, dann erst zum Kofferraum schlappte und etwas dort hineinstellte, anschließend zur Fahrerseite zurückkehrte und wie in Zeitlupen-Aktion einstieg.

»Mach doch.« , sprach Vincent, während er dabei zusah, wie dieser den Sitz einstellte und danach die Spiegel prüfte. Er stöhnte auf. »Ist doch nicht normal.«

Der Mann sah zu ihm rüber und lächelte. Vincent legte ein gespieltes Grinsen auf und nickte freundlich, als der Herr ihm per Handzeichen fragte, ob er die Parklücke nutzen möchte.

Langsam fuhr er raus, doch statt die Einfahrt frei zu machen hielt er genau neben Vincent und kurbelte sein Fenster runter. »Is' schwer hier einen Parkplatz zu finden, wa'?«

»Oh ja. Da sagen Sie etwas.«

»Einmal, da bin ich doch tatsächlich fast eine Stunde rumgekurvt und dabei hatte meine Ilse bereits das Essen auf dem Tisch.« Vincent nickte vehement und behielt sein Lächeln mit der Hoffnung, der Mann würde dann weiterfahren. »Sind Sie verheiratet?«

»Ehm nee. Ich bin einundzwanzig.«

»Ach da war ich bereits längst verheiratet. Wissen Sie, damals war alles anders. Aber ihr jungen Leute von heut seid schon ein komisches Volk. Statt euch zu binden, wollt ihr immer nur Party machen, da in diesen Discos und wechselt von einem Partner zum nächsten. Das tut euch allen nicht gut. Glauben Sie mir.«

»Ja. Sie haben Recht. Böse, böse Jugend.« , gab Vincent mit einem bleibenden Nicken und Grinsen von sich.

»Ach jetzt verschaukeln Sie mich aber junger Mann.« , lachte der ältere Herr.

»Ehm, hören Sie ... ich bin ein wenig unter Zeitdruck, also ... leider muss ich jetzt weiter ...«

»Keine Zeit. Die Jugend von heute ist immer nur auf dem Sprung. Das tut Ihnen nicht gut. Das Leben geht so schnell vorbei, da sollte man jede Sekunde auskosten.«

»Ja, danke für den Rat.« , warf Vincent eilig ein.

Der Mann schüttelte schließlich den Kopf und fuhr weiter. Vincent raste in die Parklücke und blieb krumm drin stehen. Er schnappte sein Handy und eilte hinaus. Sofort steuerte er die kleinformatige Bäckerei an, wo er die Inhaberin schon hinter der Theke sehen konnte.

»Hallo.« , sagte er, mit der kleinen Glocke im Hintergrund, die immer erklang, sobald die Türe bewegt wurde.

»Ach. Sie schon wieder.« , sprach die Frau in einem russischen Akzent.

»Ja. Ich war in der Gegend.« Vincent stützte sich an der Theke ab. »Hören Sie, als ich hier war, vergaß ich Sie etwas zu fragen ...«

Die Glocke läutete einen weiteren Besucher der Bäckerei an.

»Hallo Katjuschka. Haben Sie eventuell noch diese leckeren Keks...« Die Stimme verstummte abrupt.

Vincent drehte sich um. »Isabelle?!«

Nicht immer drauf, doch für immer auf dir (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt