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In den letzten Tagen hat es Hannah endlich geschafft ihr Zimmer komplett einzurichten. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk: Ihr Schreibtisch stand an einem großen Fenster, das das Zimmer mit Licht durchflutete. Mehrere Pflanzen zierten die Fensterbank und auch einige Bilderrahmen mit Fotos von ihren Eltern und Bruder sowie von ihrer Clique fanden dort Platz. Ihre Pinnwand befestigte sie an der Wand neben dem Schreibtisch. Auch hier waren Bilder ihrer Familie als auch von Maite und ihren Geschwistern befestigt. Dennoch sortierte sie einige aus. Vor allem Bilder von Ben wollte sie vorerst nicht in ihrem Blickfeld haben. Ihr großer Kleiderschrank hatte genug Raum für ihre Kleidung, samt Schuhen und Taschen, während in einem Regal eine kleine Musikanlage, CDs und weitere Erinnerungsstücke verstaut waren. Hannahs Naturholzmöbel waren allesamt zusammen gemixt; kunterbunte Farben waren in den Gardinen, Kissen und einem Teppich zu finden, der dem abgezogenen Dielenboden das gewisse Etwas gab, dennoch war es hell, freundlich und vor allem gemütlich. Nur die Gitarrentasche, die in einer Ecke stand war Hannah ein Dorn in Auge und beschloss die Gitarre auszupacken und in einen Ständer zu stellen. Behutsam und mit klopfenden Herzen öffnete sie die Tasche. Seit Jahren hatte sie ihre eigene Gitarre nicht mehr in der Hand. Der Anblick weckte in ihr schöne Erinnerungen, vor allem an ihren Bruder, der ,so wie sie, das Spielen auf der Gitarre liebte. Ihre Hände strichen über die Saiten, was mit schiefen Tönen quittiert wurde. „Irgendwo hatte ich doch mal ein Stimmgerät", nuschelte sie vor sich hin und öffnete die Reißverschlüsse der Tasche, als ihr ein gelber Umschlag in die Hände fiel, der ihren Namen trug. Als sie die Schrift ihres Bruders erkannte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Mit zittrigen Händen öffnete Hannah behutsam das Couvert und holte einen Brief hervor, der ihr in keiner Weise bekannt vorkam:

Meine liebe kleine Schwester,

Ich sitze hier schon seit Stunden und weiß nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll. Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht einmal, ob es diesen Brief überhaupt geben sollte. Du bist noch so jung und ich weiß nicht, ob du das jemals verstehen wirst, aber etwas in mir will, dass ich es dir erkläre.

Wir haben alles; liebevolle Eltern, die sich um uns kümmern. Erst gestern saßen wir abends zusammen und haben uns über das Abendprogramm im Fernsehen aufgeregt. Die Reisen, die wir zusammen verbringen konnten, waren die schönsten, die ich mir vorstellen konnte. Ich denke vor allem an die Spanienreise zurück, auf der wir die Familie Kelly kennen lernen durften. Ich bin so froh so liebevolle Menschen kennen gelernt zu haben. Ich hatte nie Probleme in der Schule, hatte viele Freunde und auch welche, denen ich vieles anvertrauen konnte.

Doch manchmal reichen Freunde und Familie einfach nicht aus (Ich will damit auf keinen Fall sagen, dass ihr versagt habt! Ihr seid an rein gar nichts Schuld!!!) Immer wieder fühle ich eine Leere tief in mir drin und ständig sind dunkele Gedanken in meinem Kopf. Es gab Tage, da habe ich sie nicht einmal mehr bemerkt und mir auch keine Gedanken darüber gemacht. Ich war einfach glücklich. Dann waren da aber auch wiederum solche Tage, aus dessen Dunkelheit ich einfach nicht mehr herauskam. Wie ein Strudel zog mich dieses schlechte Gefühl in den Bann. Ich kann dir noch nicht einmal sagen, was für Gedanken das waren oder auch jetzt gerade sind. Ich verstehe sie selbst nicht einmal. Egal, was ich auch tue, diese Leere kann ich mit gar nichts füllen. Ständig verfolgt mich die Angst zu versagen, etwas Falsches zu tun, jemanden zur Last zu fallen. Ich schlafe nicht mehr richtig und mein Kopf kommt nicht mehr zur Ruhe. Ich komme aus dieser Abwärtsspirale einfach nicht mehr raus. Ich hoffe, du verzeihst mir irgendwann. Ich sehe einfach keinen anderen Ausweg. Und bitte mache dir auch keine Vorwürfe. Du bist die beste kleine Schwester, die ein Bruder je haben konnte. Vergiss das nicht! Ich glaube fest daran, dass du deinen Weg gehen wirst, auch wenn ich nicht mehr da bin.

„We'll meet again, don't know where, don't know when, but I know we'll meet again, some sunny day."

In Liebe, Basti

Hannahs Augen füllten sich mit Tränen. Es sind so viele Jahre vergangen, in denen Hannah sich immer wieder fragte, was ihren Bruder dazu brachte, sich umzubringen und so viele Jahre sind vergangen, ehe sie seinen Abschiedsbrief fand. Immer wieder las sie sich den Brief durch und versuchte jedes einzelne Wort zu analysieren und zu deuten. Doch je öfter Hannah die Zeilen las, desto mehr wurde ihr bewusst, dass Basti Hilfe brauchte, um seine Depressionen in den Griff zu kriegen. Hätte eine Therapie womöglich einen Selbstmord verhindert? Die Frage „Was wäre, wenn?", plagte Hannah ungemein. Die letzten Zeilen kamen Hannah sehr bekannt vor. Sie brauchte eine Weile, bis sie die Zeilen einem Lied von Johnny Cash zuordnen konnte. Nach und nach kamen die Erinnerungen wieder hervor, in denen Basti dieses Lied in den letzten Wochen vor seinem Tod immer wieder auf seiner Gitarre spielte und auch Hannah wollte dieses Stück unbedingt lernen, so dass ihr Bruder versuchte, es ihr beizubringen. Dass aber so viel mehr hinter diesem Song steckte, war ihr damals gar nicht bewusst gewesen. Sie griff nach ihrer Gitarre, versuchte sich an die Akkorde zu erinnern und spielte >We'll meet again<, auch wenn die Gitarre alles andere als gestimmt war. Etwas holprig und verkrampft bekam Hannah das Lied zustande. Während sie spielte, fand ihre Trauer kein Ende. Sie weinte bittere Tränen und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. „Du bist so ein Idiot, Basti", sagte sie zu sich selbst, legte die Gitarre ab und strich sich mit der Hand über die verquollenen Augen.

In der Hoffnung, dass Sandra sie nicht sieht, flitzte Hannah ins Badezimmer, um zu duschen. Schon lange fühlte sie sich nicht mehr so elend und wünschte sie könnte mit Maite über alles reden. Doch diese war wegen der Tour nicht erreichbar.

Zwischen Liebe und FreundschaftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt