100

491 22 1
                                    

Nach der Fehlgeburt zog sich Hannah gänzlich zurück. Von der Uni ließ sie sich freistellen, sie aß wenig bis gar nicht und sprach nur das Nötigste. Von Schlaf war nicht mehr zu denken. Immer wieder kamen ihr die Bilder von der zwanghaften Geburt in den Kopf, Paddy wie er zerstört und still neben ihr weinte, die mitleidigen Blicke von allen. Hannahs Mutter tat alles, was in ihrer Macht stand, um ihrer Tochter zu helfen. Da Hannah es strikt ablehnte für eine Weile zu ihrer Mutter zu ziehen, schaute sie jeden Tag nach ihrer Tochter und achtete darauf, dass sie etwas aß. Sandra war mit der Situation überfordert. Natürlich versuchte sie Hannah in irgendeiner Weise zu helfen und sei es einfach, die Wohnung sauber zu halten oder einkaufen zu gehen. Auch Maite kam nicht zu Hannah durch. So eng wie ihre Freundschaft zuvor war, so distanziert war sie jetzt. Wenn Maite Hannah ans Telefon bekam, war es eher ein einseitiges Gespräch. Sie erzählte von ihrem Alltag, wo sie gerade war und was sie machte. Immer, wenn sie Hannah nach ihrem Tag fragte, kamen nur einsilbige Antworten. Maite war eines Tages so verzweifelt, dass sie anfing Hannah anzuschreien, dass ihr alle nur helfen wollen und sie sich zusammen reißen sollte, da nicht nur sie trauerte. Auch Paddy war die ersten Tage am Boden zerstört und weinte, wenn er sich nicht beobachtet fühlte. Seiner Familie gegenüber gab er sich stark und versuchte klare Gedanken zu fassen. Innerlich war er zerrissen und betäubte seinen Schmerz mit Arbeit, probte mehr als die anderen, übernahm noch mehr Verantwortung und versuchte jeden Termin sämtlicher Medien wahrzunehmen. Die Gespräche zwischen Hannah und Paddy waren noch schlimmer als die, zwischen Maite und ihr. Paddy war derjenige, der ab und zu anrief, aber mehr als ein „Hallo" und „Wie geht's dir?" war meistens nicht drin. Während Paddy mit niemanden sprach und sich auch viel mehr Arbeit aufzwang, bekam er nicht viel von Hannah mit. Maite hingegen blieb mit Sandra und Tina in Kontakt und erfuhr so viel über die Gemütslage ihrer Freundin. Sie versuchte die Neuigkeiten, die sie von ihren Quellen bekam, an Paddy zu tragen, doch er entschuldigte sich ständig und vertröstete seine kleine Schwester und wenn sich eine Gelegenheit bot, verschwand er im Badezimmer oder stellte sich schlafend.

Nur langsam erholte sich Hannah von diesem traumatischen Erlebnis. Als sie sich bereit fühlte, sprach sie viel mit Emil über ihre Gefühle, der ihr mit Rat und Tat zur Seite stand. Irgendwann akzeptierte sie den Tod und war mithilfe von Emil und Sandra bereit, sämtliche Babysachen und Erinnerungen in Kartons zu verstauen und alles hinter sich zu lassen. Mit der Zeit nahm sie auch wieder von selbst Kontakt zu Maite auf, die ihr alle Zeit der Welt gab, die sie brauchte. Auch die Beziehung zu Paddy wurde wieder besser. Eine unüberbrückbare Distanz blieb trotzdem zwischen den beiden, die sowohl Hannah als auch Paddy nicht verborgen blieb. Bei ihren Treffen waren sie sehr gereizt und zickten sich gegenseitig ohne Grund an. Hannah flehte Paddy förmlich an, über seine Gedanken und Trauer zu reden, doch Paddy schaltete auf Durchzug. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, mir geht es gut.", sagte er immer, worauf Hannah immer wieder ausrastete und ihn anschrie. Wenn Hannah wiederum einen schlechten Tag hatte und eine Schulter zum Anlehnen brauchte, war Paddy körperlich da, doch physisch flüchtete er und baute eine Mauer, die jegliche Gefühle verbot.

Es verging wieder eine lange Zeit, bis Hannah Paddy endlich dazu brachte, einen Tag frei zu nehmen, so dass sie sich mehr als ein paar Stunden sehen konnten. Er hatte sich sogar dazu bereit erklärt sie in der WG zu besuchen. Hannah erzählte dies Sandra, die ihrer Freundin sofort anbot ein paar Tage zu Sascha zu ziehen. Nervös tigerte sie durch die Wohnung und wartete nur darauf, dass es endlich an der Tür klingelte. „Hey, komm rein.", sagte sie als Paddy bei ihr ankam und schaute verlegen auf ihre Füße." Auch Paddy war überfordert und wusste nicht, wie er seine Freundin begrüßen sollte, so dass sie sich verklemmt umarmten. „Ich habe Lasagne vorbereitet. Hast du Hunger?", fragte Hannah so gelassen wie möglich und war erleichtert als Paddy nickte. Gemeinsam saßen sie in der Küche, ein Gespräch blieb jedoch aus. Hannah zog sich sämtliche Themen aus den Fingern, animierte Paddy zum Reden, vermied dabei Themen wie Kinder, Beziehungen und Psychologie. Selbst der letzte Strohhalm, das Thema Musik, an die sie sich zu klammern versuchte, blieb ohne Ziel. „Willst du einen Film schauen?", fragte Hannah genervt stand auf und räumte den Tisch ab. „Von mir aus.", sagte Paddy gleichgültig und ließ sich aufs Sofa fallen. Hannah zappte durch die Programme und blieb bei Titanic hängen. „Können wir bitte etwas anderes gucken?" Paddy atmete laut auf und lehnte sich nach vorne. „Hier, dann such du dir was aus." Sie schmiss Paddy die Fernbedienung hin, der wild durch die Programme wanderte. Schließlich gab er es auf und schaltete genervt den Fernseher aus. Hannah machte Paddys Verhalten wahnsinnig und hielt es nicht mehr aus. „Verfickte scheiße. Paddy, du musst endlich dadrüber reden! Merkst du nicht, dass wir hier auch nicht weiter kommen?" „Über was zur Hölle soll ich reden? Es gibt nichts zu bereden.", wurde Paddy nun auch lauter. Hannah drückte die Finger in ihren geschlossenen Augen und versuchte sich zu beruhigen. Ihre Stimme wurde sanfter. „Merkst du nicht, dass wir uns kaputt machen, wenn wir nicht über die Fehlgeburt reden, wenn wir nicht wissen wo wir überhaupt stehen?" „Ich will so etwas nicht hören. Es geht uns doch gut. Du gehst wieder zu Uni, ich mache Musik, sehe die Welt und habe alles, was zu einem Musikerleben dazu gehört. Ich bin glücklich." „Hast du schon mal daran gedacht, wie ich mich dabei fühle? Paddy, ich komme gar nicht mehr an dich heran. Du stürzt dich in die Arbeit, wir sehen uns noch seltener als zuvor. Dabei will ich doch nur diese Zeit mit dir zusammen durchstehen. Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht und es macht mich fertig dich so zu sehen." Paddy stand wütend auf. „Ich habe alles bereits durchgestanden und verarbeitet. Jetzt spiel dich bitte nicht als Psychologe auf. Ich weiß was gut für mich ist und was nicht. Dir hilft es vielleicht darüber zu reden, ich kläre das auf meine Weise...und zwar alleine." „Paddy wo willst du denn hin?", fragte Hannah verzweifelt, doch Paddy stürmte aus der Wohnung.

Er spürte die kalte Luft in seinem Gesicht und strich planlos durch die Gassen, während Hannah sich in das Sofa sinken ließ und weinte. Paddy hasste sich selbst für das, was er Hannah antat. Er liebte sie, doch er wusste selbst nicht wo ihn der Kopf stand. Seine selbst aufgetragene Arbeit stieg ihm zu Kopf, ständig musste er an das kleine Baby denken, welches er nicht anschauen konnte. In seiner eigenen Trauer ließ er Hannah im Stich und hatte dadurch Schuldgefühle. Und Hannah war immer noch bereit das mit ihm gemeinsam durchzustehen. ‚Was bin ich doch nur für ein Scheusal', sagte er zu sich selbst. Er hatte doch alles, warum war er dennoch so unglücklich. Entschlossen peilte er ein Hochhaus an, das er aus seiner Jugend nur zu gut kannte und stieg empor, öffnete hektisch das Fenster und stieg auf das Fensterbrett...

Mit verquollenen Augen öffnete Hannah die Tür und war erleichtert als Paddy vor ihr stand. Mit Tränen in den Augen umarmte er sie. Eine Ewigkeit umarmten sie sich und weinten sich ihren Kummer aus der Seele. Ohne viele Worte legten sie sich ins Bett, Hannah schmiegte sich an Paddys Rücken. Lange lagen beide wach und hingen ihren Gedanken nach, ehe sie unruhig einschliefen. Am nächsten Morgen öffnete Hannah ihre Augen und sah, dass Paddy schon wach war. Er starrte an die Decke, war in seinen Gedanken vertieft. „Paddy, ich liebe dich.", flüsterte Hannah und unterdrückte wieder ihre Tränen. „Ich dich auch, wirklich.", erwiderte er ohne seinen Blick von der Decke abzuwenden. „Wie stellst du dir das vor, wie es jetzt weiter geht? Ich kann das so nicht mehr. Es zerreißt mich, dir nicht helfen zu können." Paddy nahm Hannah in den Arm. „Ich habe keine Ahnung, wirklich. Ich muss meine Gedanken neu ordnen und darüber klar werden, was ich überhaupt will. Das hat wirklich nichts mit dir zutun. Ich weiß einfach nicht mehr wer ich bin und ich hasse mich dafür, dass ich der Grund bin, der dich unglücklich macht." Paddy unterdrückte seine Tränen und spürte, dass es an der Zeit war zu gehen.

Hannah weinte immer noch als sie Paddy zu Tür begleitete. „Du weißt, dass du das nicht alleine durchstehen musst, oder?" Sie lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete Paddy dabei, wie er sich die Schuhe zuband. Dieser nickte und stand auf, um Hannah in den Arm zu nehmen und sie auf die Stirn zu küssen. „Ich weiß, Murmeltier, ich weiß. Ich liebe dich. Bitte vergiss das nicht." Hannah vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge. „Ich dich auch." Sie wischte sich die Tränen mit ihrem Ärmel aus dem Gesicht und versuchte zu lächeln. „Melde dich ab und zu mal, ja?", sagte sie und knuffte Paddy in den Arm. „Wenn du es auch tust." Hannah nickte. „Also, dann mach's gut." „Du auch." Sie umarmten sich ein letztes Mal und wussten beide, dass sie sich so schnell nicht bei dem jeweils anderen melden würden.

Zwischen Liebe und FreundschaftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt