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Nachdenklich saß Hannah mit ihrer Mutter und mit ihrem Vater in der hintersten Reihe einer Kirche. Wie mechanisch sang sie „Stille Nacht" und „Oh du Fröhliche" mit, sprach das Vater unser und stand auf, wenn sie es musste. Sie sah zwar, wie sich die Lippen des Pfarrers bewegten, doch von der Predigt bekam sich gar nichts mit. Zu sehr hing sie dem letzten Telefonat mit Paddy nach, der sie heute Nachmittag anrief und ihr traurig erzählte, dass er es nicht nach Köln schaffen würde, da weitere TV-Auftritte zwischen den voll bepackten Tourplan anstanden. Selbst an den Weihnachtsfeiertagen würde er mit seiner Familie Konzerte geben müssen. Sie wäre zu gerne zu Paddy gereist, doch durch ihr Studium war sie sehr eingespannt. Es ärgerte sie, dass vor Weihnachten auch noch Wochenendseminare anstanden, die im Rahmen ihres Studiums Pflicht waren, so dass sie keine Zeit fand Paddy zu treffen. Zudem hing sie mit dem Lernstoff hinterher. Als sie Paddy davon erzählte, war er alles andere als begeistert und beharrte darauf, dass er sie das nächste Mal besuchen würde, damit sie mehr Zeit für ihr Studium bekam. Nun, da Paddy jedoch nicht einmal zu Weihnachten Zeit hatte, bereute es Hannah bei diesem Punkt nachgegeben zu haben.

Die Kirchenglocken ertönten. Hannahs Vater riss sie aus ihren Gedanken: „War das nicht ein schöner Gottesdienst?" Geistesabwesend nickte Hannah und ging Schritt für Schritt mit ihren Eltern aus der Kirche. Wie jedes Jahr nach dem Gottesdienst besuchten sie Basti. Durch tiefen Schnee stampfte Hannah mit ihren Eltern zum Auto. Dort angekommen reichte ihr ihre Mutter eine Keksdose, während sie ihrem Vater Tassen in die Hand drückte und sie selbst eine Thermoskanne an sich nahm. Langsam schlenderten sie zu dem Friedhof hinüber und gingen gezielt durch die Reihen. Der Schnee unter ihnen knirschte bei jedem Schritt. An sich herrschte an diesem Abend eine besinnliche Ruhe, die nur von dem Prasseln der Schneeflocken unterbrochen wurde. Als sie an Bastis Grab ankamen, wurde dieses durch mehrere Kerzen erleuchtet. Es berührte Hannah immer wieder aufs Neue, dass noch so viele an ihren Bruder dachten. Hannahs Vater verteilte die Tassen und Tina füllte sie mit heißen Kakao. Hannah öffnete währenddessen die Keksdose, so dass sich jeder dran bedienen konnte. Sie nahm sich die Zeit und dachte im Stillen an ihren Bruder und auch ihre Eltern hingen ihren Gedanken nach. Zum Schluss ihrer Tradition zündeten sie gemeinsam eine große tannengrüne Kerze an und legten einen Keks dazu. Hannah wusste, dass das Hinlegen eines Kekses absurd war, doch es gehörte einfach dazu. Wie abgesprochen verließ Familie Münch den Friedhof und fuhren zu Tante Gretchen, die mit Pad sehnsüchtig auf ihren Besuch wartete.

Gretchen übertraf sich beim Weihnachtsessen selbst. Es gab gebratene Ente mit Rotkohl, Grünkohl, Kartoffelklöße und brauner Soße. Und auch der Schokoladenkuchen mit flüssigem Kern und Vanilleeis ließ Hannah das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihre Tante war mit dem ganzen Lob sichtlich zufrieden: „Wenn ihr dann alle gut gesättigt seid, können wir ja mit der Bescherung beginnen." Auch hier gab es wieder die sogenannte Würfeltradition, die eingehalten werden musste; jeder würfelte der Reihe und der, der eine sechs würfelte, durfte ein Geschenk öffnen. Hannah saß zusammen mit Pad vor dem Weihnachtsbaum und fing an mit dem Würfeln. Das erste Geschenk, das geöffnet werden durfte, war für Hannahs Mutter. „Hier das ist von mir", sagte Hannah und gab ihr das Geschenk, das ihre Mutter vom Geschenkpapier befreite und ein weinroter Timer zum Vorschein kam. Hannah bekam von ihrer Tante einen hellblauen Kaschmirpulli, von ihrem Vater Schmuck aus Äthiopien und von ihrer Mutter eine lederne Umhängetasche. „Hier, da sind noch zwei Pakete von Oma und von..." Hannahs Vater versuchte den Absender zu entziffern. „Maike und Barry?" Hannah lachte: „Ich glaube, da sollte Maite und Paddy stehen." Ihr Vater zuckte amüsiert die Schultern und reichte ihr das Paket, das ziemlich schwer war. Als Hannah das Paket öffnete fing sie lauthals an zu lachen. „Was ist denn da drin?", fragte Hannahs Mutter und beugte sich neugierig vor. „Jede Menge Schneekugeln." Sie betrachtete jede einzelne und bemerkte, dass jede Kugel aus einer anderen Stadt zu sein schien. Zwischen der ganzen Luftpolsterfolie fand Hannah neben der ganzen Schneekugeln eine selbstbeschriftete CD sowie zwei Briefumschläge und selbst gebackene Kekse.

Wie zu erwarten war die Weihnachtskarte von Maite, während Paddy ihr einen Brief schrieb, den sie jedoch später für sich lesen wollte.

„Liebe Hannah,

wir wünschen dir und deiner Familie eine besinnliche und fröhliche Weihnachtszeit und einen guten Rutsch ins neue Jahr.

Wie du siehst, komme ich zurzeit echt viel rum. Dennoch habe ich dich nicht vergessen und versucht aus jeder Stadt eine kleine Schneekugel für dich zu ergattern. Ich hoffe, du freust dich. Bei den Keksen wäre ich vorsichtig. Paddy und Sean haben sich am Backen versucht und einige Kekse sind...naja sagen wir mal sehr fest geworden. Geschmacklich finde ich sie jedoch super :-) Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir uns bald öfter sehen werden. Hier ist nämlich etwas im Busch, dazu aber genaueres, wenn alles unter Dach und Fach ist. Wenn alles glatt läuft sehen wir uns im April. Bis bald."

Neben Maite haben alle ihre Geschwister ebenfalls unterschrieben und auch Sean hat sich auf der Karte verewigt.

Hannah freute sich sehr über das Geschenk von Maite und ließ ihre Laune besser werden. Sie und ihre Familie saß noch lange beisammen, spielten Gesellschaftsspiele und auch ihre Gitarre kam zum Einsatz. Gemeinsam mit ihrer Tante, die sie am Klavier begleitete, trällerten sie ein Weihnachtslied nach den anderen, bis ihr Vater „Last Christmas" von Wham nicht mehr hören konnte und das Radio einschaltete.

„Danke für das tolle Essen Gretchen. Und Morgen kommst du vorbei, dann können wir dich auch verwöhnen." Sagte Hannahs Mutter als sie sich verabschiedeten und bereits vor der Tür standen. „Wie jedes Jahr. Bis morgen ihr lieben und fahrt vorsichtig. Es ist doch ziemlich glatt." Als sie zu Hause ankamen stellten sie die Geschenke im Wohnzimmer ab. Hannah nahm die CD und den Brief von Paddy aus dem Karton und wünschte ihren Eltern eine gute Nacht. Hannahs Mutter hat ihr altes Zimmer in ein weiteres Gästezimmer umgestaltet, in dem Hannah über die Weihnachtsfeiertage schlafen konnte. Mit Pad im Schlepptau ging sie in ihr altes Zimmer. Wie aus Gewohnheit legte sich Pad an ihr Fußende, während sie unter die Bettdecke schlupfte und den Briefumschlag öffnete.

„Mein liebstes Murmeltier,

Fröhliche Weihnachten. Ich dachte, ich schenke dir als erstes unsere neue CD „From their hearts". Ich weiß, das kommt jetzt alles sehr einfallslos rüber. Zu mal du keine einzige CD oder Kassette von uns besitzt (Shame on you! ;-)), aber lass mich erklären. Der erste Titel auf diesem Album hat nämlich eine besondere Bedeutung für mich. Ich habe ihn vor einigen Monaten geschrieben und ich denke, der kommt dir auch bekannt vor. Maite und Angelo haben mich tatkräftig unterstützt und mich quasi gezwungen, dieses Lied mit auf das Album zu packen. Ich hoffe, du weißt wer gemeint ist.

Ich vermisse dich wirklich sehr und hoffe, dass wir uns (hoffentlich jetzt gerade, in diesem Moment, wenn du das hier liest) noch in diesem Jahr wiedersehen.

In Liebe P."

Hannah lächelte in sich hinein und gleichzeitig versetzten ihr die letzten Zeilen einen Stich. Wie gerne hätte sie Heiligabend mit Paddy verbracht. Schnell stand sie nochmal auf und legte die CD in ihren CD-Player. Gespannt wartete sie auf das erste Lied und bekam eine Gänsehaut, als sie Paddys Stimme hörte. Sie erinnerte sich noch zu gut an dem Abend, als sie im Schneidesitz vor Paddy saß und er „I feel Love" auf seiner Gitarre spielte. Sie bekam eine Gänsehaut als sie daran dachte und unterdrückte Freudentränen. Mit zittrigen Händen nahm sie ihr Handy vom Nachttisch und schrieb Paddy sofort eine SMS.

„Vielen, vielen Dank für die CD. Ich bin echt...baff. Mir fehlen die Worte. :-) Fühl dich 1000mal geküsst und umarmt. Frohe Weihnachten! Ich denk an dich. Liebe Grüße an den Rest und nochmals danke für die tollen Geschenke."

Mit der CD im Hintergrund schlief Hannah glücklich ein und bemerkte nicht, dass auf der CD zwei Hidden Tracks versteckt waren.

Zwischen Liebe und FreundschaftWhere stories live. Discover now