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Sofort fällt mein Blick auf den Jungen, ein kleines Menschenkind, vielleicht 12 Jahre alt. Er liegt da, gekrümmt, zitternd vor Angst und Schmerzen und richtet hilfesuchend seine Augen auf mich. Der erstickende Laut muss gekommen sein, als sich dieser Speer in seinen Bauch grub. Schnell sehe ich mich um, ob der Angreifer noch hier ist. Aber ich sehe, höre und spüre niemand anderen. Legolas weiß so gut wie ich, dass der Junge keine Chance zum Überleben mehr hat. Aber trotzdem möchte ich versuchen, ihm seine letzten Minuten schöner zu gestalten als hier im Gebüsch. Ich möchte nicht hilflos zusehen, wie er stirbt, dennoch würde es zu lange dauern, ihn bis zum Palast zu bringen. Also fasse ich kurzen Entschluss und nehme den Jungen mit zu mir auf Pamina. Mir kommt der Gedanke, ihn mit auf Legolas' Lieblingsplatz zu nehmen. Er ist nicht weit von hier und bietet eine wunderbare Aussicht. Der Junge ist so abgemagert und leicht, dass Pamina wohl kaum einen Gewichtsunterschied spürt, als Legolas ihn auf sie hinaufsetzt.

Als auch ich wieder aufsteige, klammert sich das Menschenkind mit seinen letzten Kräften an mich und schenkt mir ein kleines, schmales, aber sehr bedeutungsvolles Lächeln. Ich lächle zurück, doch schießen mir Tränen in die Augen. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe. Wenn wir früher gekommen wären, hätten wir ihn vielleicht retten können. Wir haben uns wegen mir zu lange bei dem Ork aufgehalten. Ich bin schuld, dass dieser Junge sterben wird. Dass er seine Familie und Freunde nie wieder sehen wird. Ich muss diese Gedanken jedoch schnell beiseiteschieben, denn jetzt sehe ich es als meine Pflicht, ihm den schönsten Abschied von seinem Leben zu geben, den ich ihm bieten kann. Somit lege ich meinen Arm fester um den Jungen und galoppiere in höchster Geschwindigkeit los. Pamina kennt den Weg. Sie galoppiert geschickt durch den Wald hindurch, lässt sich von keiner Wurzel, die am Boden im Weg liegt, aus der Fassung bringen und der Anstieg auf den Berg bereitet ihr keinerlei Probleme. Wir rasen in so einer Geschwindigkeit durch den Wald, dass die Bäume nur noch als sich bewegende, langgezogene Fäden zu erkennen sind. Plötzlich kommt von der Seite eine Horde an Orks und ich höre Legolas rufen: „Bring ihn hoch, ich lenke sie so lange ab und komme dann nach!" Ich gehorche ihm und reite weiter.

Legolas wusste, dass noch mehr Orks in der Nähe waren. Trotzdem mache ich mir Sorgen, ob er allein gegen diese Masse ankommen kann. Auf einmal spüre ich ein Zucken des Menschenkindes, was mich wieder auf ihn konzentrieren lässt. Ich flüstere ihm behutsam zu: „Wir sind gleich da, keine Angst, es ist wunderschön dort. Halte noch etwas durch." Die letzten Worte gingen etwas unter, denn ich bereue schon jetzt sie überhaupt ausgesprochen zu haben. Ich versuche nicht allzu besorgt zu wirken, denn es soll für den Jungen jetzt nur um sich selbst gehen.

Endlich kommen wir an. Sofort steige ich von Pamina und trage den Jungen an den schönsten Aussichtspunkt. Ich lege ihn ab und setze mich neben ihn, so dass sein Kopf behutsam in meinem Schoß ruhen kann. Ich sehe, wie sein Körper immer schwächer und sein Gesicht blasser wird. Seine Augen jedoch strahlen zwar Angst davor aus, was ihn erwarten wird, schauen aber auch fasziniert den Himmel an. Der Mond steht mittlerweile schon hoch am Himmel. Es muss mitten in der Nacht sein. Erneut schießen Tränen in meine Augen, aber ich versuche sie zu verstecken. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe den Jungen hierhergebracht und er sieht tatsächlich glücklich aus. Aber was nun? Soll ich ihm einfach beim Sterben zusehen? Nun sehe ich, wie die Augen des Menschen erwartungsvoll zu mir hochschauen, als würde er wollen, dass ich ihm etwas erzähle. Und genau das tue ich. Ich erzähle von den Sternen und dem Mond, die wir Elben so begehren und erzähle ihm von meiner Heimat. Er hört interessiert zu, aber ich sehe, wie schwer es ihm fällt. Seine Augen sind wieder auf den Himmel gerichtet. Er muss den Nachthimmel wohl genauso lieben wie ich. Ich sehe wie immer mehr Leben aus ihm weicht. Immer mehr Blut sickert aus der Stelle, in die der Speer eingestochen ist. Und gerade, als ich davon erzähle, dass wir in meiner Heimat, in Sternental, viele Sternschnuppen haben und ausstellen, da sie für uns als sehr besonders gelten, spüre ich, wie sein Herz aufhört zu schlagen, seine Atmung wegfällt und seine Augen stillstehen bleiben. Jetzt verstumme ich und kann meine Tränen nur schwer zurückhalten. Ich streiche behutsam mit meiner Hand über sein Gesicht und schließe damit seine Augen.

Erst jetzt merke ich, dass Legolas schon lange Zeit hinter uns steht und mir aufmerksam zugehört hat. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, so dass ich Legolas' Gesicht sehen kann. Auch er sieht mitgenommen aus. Ich bin erleichtert ihn zu sehen und zu wissen, dass ihm die Orks nichts angetan haben. Langsam und vorsichtig hebe ich den Kopf des Jungen von meinem Schoß und richte mich auf. Ich drehe mich um und stehe direkt vor Legolas. Ich schaue ihm tief in seine blauen Augen und dann umarme ich ihn durch meinen Überschuss an Gefühlen, ohne richtig darüber nachzudenken. Doch schnell schrecke ich zurück und sehe Legolas verwunderten Gesichtsausdruck. Ich stottere leise: „Es... Es tut mir leid... bei uns ist dies üblich..., wenn... als... Erleichterung, Freude... oder... als Trauer... Es gibt ein Gefühl der Geborgenheit... Auch gilt es als Zeichen der Freundschaft...-" Unsicher sehe ich wieder zu Legolas hoch. Er lächelt mich nun an und sagt: „Das soll dir nicht leidtun, ich empfinde es als eine schöne Geste. Bei uns ist das nicht so verbreitet, jedoch finde ich Gefallen daran." Nach beenden des Satzes ist er es, der auf mich zukommt und mich in seine Arme schließt. Glücklich und erleichtert lehne ich meinen Kopf an seine Schulter. Ich wundere mich immer wieder, wie Legolas, jemand so groß, stark und kräftiges, gleichzeitig so behutsam und elegant sein kann.

Legolas & DuWo Geschichten leben. Entdecke jetzt