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Yoongi

Komplettes Chaos beherrschte mich. Meine Gedanken, so formlos und ungreifbar, sprangen wild in meinem Kopf hin und her, verursachten ein leichtes Dröhnen und Pochen hinter meiner Stirn, hätten mich beinahe zu einem schmerzgetränktem Laut verleitet. Doch noch bevor der kleinste Ton über meine Zunge gleiten konnte, unterdrückte ich jeglichen Drang dazu.

Ruhig und warm entfloh der Atem der zierlichen, schlafenden Gestalt direkt neben mir. Es war der Anblick seiner sich endlich gleichmäßig hebenden Brust und seines halbwegs entspannten Gesichts, das mich zur Stille ermahnte.

Es hatte lange gedauert. Stunden saßen wir dort im Wohnraum auf dem harten und doch nicht unangenehm drückendem Boden, der glasige Blick aus dem Fenster zu den herrenlosen Sternen, mit denen alles seinen Anfang genommen hatte.

Er hatte es mir erzählt, alles und obwohl seine Stimme so schmerzlich bebte und manche Worte einfach verschluckte, so verstand ich. Zum allerersten Mal seit unserer Bekanntschaft verstand ich vollkommen. Wie bei einer imaginären Reise hatte er mich mitgenommen- durch sein Leben, seinen Alltag mit all den Schönheiten und Herausforderungen, wobei letzteres zu meinem Leidwesen überwog.

So oft hatte ich mir genau diesen Moment bereits vorgestellt- ich hatte geträumt im Schlaf und im Wachen, hatte darum gefleht und gebettelt. Der Ort war immer nebensächlich gewesen, ich hatte mich immer nur auf das Gefühl der Erleichterung konzentriert, welches mich selbst jetzt noch fest in ihren Händen hielt. Und obwohl ich mich nun befreit fühlen sollte, wie als wären endlich die lästigen Ketten von mir gefallen und mir wäre es wieder möglich hinaufzusteigen- hinaus aus diesem drückenden Loch, das Jimin so unsagbar bekannt vorkommen musste, so konnte ich es nicht; ich konnte mich nicht erheben, nicht fliegen auf den Wogen der Erleichterung, die mich durch den Himmel tragen sollten.

Denn diese Erleichterung hatte einen bitteren Beigeschmack. Es war sein Gesicht, die Erinnerung an das Beben seines Körpers unter den allesverzehrenden Schluchzern, das mich innehalten ließ. Jimin hatte sich mir geöffnet, mir seinen schwächsten Punkt offenbart und anvertraut... ich wusste, es hatte ihn unglaublich viel Mut und Überwindung gekostet und ich war mir selbst nicht wirklich sicher, was eigentlich der genaue Auslöser für das Brechen seines Schweigens war...

Aber sicher war ich mir in der Annahme, dass es für ihn einer der schwersten Momente seines Lebens gewesen sein musste und das ließ die liebliche Erleichterung wie Schnee unter der prallen Sonne schmelzen- nicht ein Rest blieb davon übrig, nur eine Ahnung, so wie das Tauwasser nach der unnachgiebigen Schmelze.

Er hatte einen Preis gezahlt, damit ich diese Erleichterung empfinden konnte, während Schmerz, Verlust und Verzweiflung ihn von innen heraus auffraßen. Mir wurde bewusst, dass ich eigentlich gar kein Recht dazu hatte so etwas leichtes und schwebendes zu fühlen, obwohl Jimin wohl genau darauf hoffte. Ich wusste, irgendwann, irgendwann, wenn das alles nicht mehr so schwer wog, konnte ich diese Gefühle guten Gewissens zulassen, aber jetzt...

...jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt dafür.

Jimin litt und ich mit ihm, egal ob ich es willentlich tat oder nicht- mein Herz schmerzte automatisch und ließ mich verzweifelt wünschen jeglichen Kummer aus ihm vertreiben zu können, egal zu welchem Preis. Aber auch das würde nicht so funktionieren, wie ich mir das gerne vorstellte. Es würde eben Zeit brauchen, eine Menge Zeit um all das zu verarbeiten- nicht nur für mich.

Unwillkürlich schweiften meine Gedanken zu Jimins Worten, die mich meine Augen hatten entsetzt aufreißen lassen. Es war nicht nur der folgenschwerste aller Sätze gewesen, der mich hatte erstarren lassen, auch all die anderen Situationen, von denen er mir erzählte und die daraus resultierten, hatten mich hart getroffen.

Bleischwer hatte meine Zunge in meinem Mund gelegen, nicht in der Lage ein Wort, ja sogar einen Laut zu formen. Ich hatte mir seit unserem ersten Treffen unaufhörlich Gedanken gemacht, hatte wild spekuliert und die unrealistischsten Szenarien in meinem Kopf entworfen. Ich dachte, es würde mich voranbringen, mich mental vorbereiten, aber nichts war so simpel und doch so folgenschwer als das, womit Jimin beinahe täglich umging.

Es machte mich traurig. Nicht nur, weil Jimin all das schweigend hingenommen hatte, sondern auch der Fakt, dass keine meiner Szenarien zur Realität geworden war. Weil dieses Thema einfach so normalisiert war, dass sich für mich zuerst kein Problem daraus ergeben hatte. Und das machte mich insgeheim auch wütend auf mich selbst. Weil es sich in der ersten Sekunde nur halb so dramatisch angehört hatte, als es eigentlich war.

Wer kannte es denn nicht? Wer hatte denn keine Erfahrungen mit betrunkenen Freunden oder Bekannten, wenn die ein oder andere Feier etwas eskalierte? Aber ich hatte heute realisiert, dass es doch so mächtige Unterschiede gab, was Partys und einen krankhaften Konsum anging.

Jimin hatte mit nur wenigen Worten so vieles in mir ausgelöst- Erstaunen, Entsetzen und dann die Wut auf mich selbst- alles, während ich mich einfach nicht rühren konnte. Ich hätte es niemals für möglich gehalten jemals eine solche Überforderung zu empfinden, aber wirklich unverdient war es nicht. Ich könnte schreien vor Verachtung- über mich selbst, weil ich mich so unwürdig fühlte. Wochen-, Monate lang war ich fast jeden Tag für Jimin da gewesen, hatte ihn kennengelernt, ihn lieben gelernt und war in jeglichen Situationen an seiner Seite gewesen, hatte ihn beruhigt und versprochen immer für ihn da zu sein und zu helfen.

Ich hatte mich bei jedem dieser Versprechen darum bemüht so ernst wie möglich zu klingen, dass er verstand, dass er mir vollständig vertrauen konnte, dass ich ihm zuhören und ihm dann helfen würde. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich dieses Versprechen nicht ganz hatte halten können. Ja, ich hatte ihm zugehört und in den Arm genommen, ihn beruhigt wie ich es immer tat. Aber der Fakt, dass ich die Ernsthaftigkeit seines Problems nicht sofort erkannt hatte, war unverzeihlich.

Schuldgefühle der schlimmsten Art begannen in meine Adern zu kriechen, mich zu vergiften und meinen Verstand zu lähmen. Ich war noch immer wütend auf mich selbst und traurig zugleich- wegen mir und der unglücklichen Seele neben mir.

Mit glasigen Augen wandte ich mein Blick zu ihm hinüber. Seine Zügen sahen nun etwas glatter und entspannter aus, dennoch erkannte man an seiner trockenen Haut und den geschwollenen Augen, was er die letzten Stunden durchgemacht hatte. Ich mochte diesen Anblick nicht, mochte die Gewissheit über die Kosten der für mich erwünschten Erleichterung nicht.

Leise und ganz langsam hob ich eine meiner Hände. Sie zitterten ein klein wenig, als würde selbst mein eigener Körper nicht mehr mit den ganzen Gefühlen und Gedanken klar kommen, dennoch leuchtete in diesem Wirrwarr momentan nur ein glasklarer Gedanke- es war ein Versprechen, ein schweres und wahrscheinlich mein letztes dieser Art, bevor ich es wieder wagte etwas dergleichen auszusprechen, jedoch war es umso wichtiger. Nicht für mich, aber für ihn.

Vorsichtig strich ich ihm eine dunkle Strähne aus der Stirn, betrachtete sein blasses und doch so wunderschön ästhetisches Gesicht, seine Züge, in die ich mich unfassbar verliebt hatte. Und genau wegen dieser schweren, aber umso bedeutenderen Liebe, sprach ich mein Versprechen in das sich von den rosa Sonnenstrahlen erhellende Zimmer.

„Ich werde dir helfen, Jimin. Ich werde dir helfen glücklich zu werden."


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Und damit ist auch geklärt, wie Yoongi all das empfindet...

Es ist nen ganz schönes Gefühlschaos, was? Ganz so einfach war das mit dem Schreiben dabei auch nicht, aber ich hoffe ihr konntet verstehen, was alles in ihm vorgeht... Ich geb mir immer wahnsinnig Mühe alle möglichen Gedankengänge so logisch und nachvollziehbar wie möglich auszuschreiben, aber bei solch einem vielschichtigen Thema ist das gar nicht so leicht^^"

Jedenfalls hoffe ich, dass es euch gefallen hat und bedanke mich gleich mal bei all denjenigen, die sich meine Worte letztens zu Herzen genommen haben und mir ein wenig Feedback dalassen- ich weiß das wirklich zu schätzen! <3

Sollte ich heute Abend noch ein wenig vorankommen, könnte ich morgen evlt sogar schon das nächste Kapitel hochladen, bevor die Schule mich wieder komplett einnimmt...

Ich wünsch euch noch einen wunderschönen restlichen Nachmittag/Abend <3

𝑀𝑖𝑟𝑟𝑜𝑟 | 𝑌𝑜𝑜𝑛𝑚𝑖𝑛 |Donde viven las historias. Descúbrelo ahora