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Jimin

Wenig gespannt ließ ich meinen Blick zu der Tafel im vorderen Bereich des Raumes schweifen und beobachtete meinen Lehrer dabei, wie er eine chemische Formel an das dunkle Material schrieb und mehrfach unterstrich. Als er dann auch noch einen Schritt zurücktrat und ich das volle Zeichen erkennen konnte, bildete sich sofort ein beklemmender Knoten in meiner Magengegend.

„Wer kann mir sagen, was das für ein Stoff ist?", fragte er und sah erwartungsvoll in die Masse aus Schülern, aus der sich nur ein Arm energisch nach oben streckte. Mr Lee nickte dem Mädchen aus der vorderen Reihe freundlich zu, woraufhin ihre Stimme durch den Raum hallte und direkt Übelkeit in mir aufsteigen ließ. Bitte nicht. Doch wie immer hatte ich keine Wahl und vernahm nur zu gut ihre Antwort.

„Das ist Ethanol. Umgangssprachlich auch einfach Alkohol genannt, ein sehr beliebtes Suchtmittel in der Gesellschaft." Gelächter erklang in der gesamten Klasse, untergrub die bittere Wahrheit in ihren Worten. Gequält sah ich mich um, blickte zu den zu lachenden Fratzen verzerrten Gesichtern meiner Mitschüler, die diesen Fakt in keinster Weise ernst nahmen. Es raubte mir den Atem und bittend starrte ich nach vorne, erhoffte mir eine Reaktion Mr Lees, der als einziger dieser Qual ein Ende bereiten konnte.

„Ruhe bitte. Es gibt überhaupt keinen Grund zu lachen, denn Ihre Mitschülerin hat vollkommen recht. Es handelt sich schlichtweg um Alkohol. Ein sehr erstaunlicher Stoff, den wir uns in den nächsten Wochen genauer ansehen werden." Verzweifelt kniff ich die Augen zusammen, wünschte mir einfach dieser ganzen Situation entgehen zu können. Ich hatte in meinem Leben schon zu viel von diesem Thema, sah die eigentlich abschreckende Wirkung dieses Stoffs, vor der die anderen so leichtsinnig ihre Augen verschlossen. Zuhause war ich davon tagtäglich umgeben, nur die Schule war ein Ort gewesen, an dem ich meine Probleme auch nur für ein paar Stunden hatte ruhen lassen können, wo ich nicht ständig an mein schiefgelaufenes Leben erinnert wurde. Jetzt wurde mir auch das ohne zu zögern genommen, was mich atemlos zurückließ.

Mein Blick schweifte zu Tae, doch auch er hatte ein breites Grinsen im Gesicht. Dieser Anblick war keine Überraschung für mich, schließlich liebte es mein bester Freund auf Partys zu gehen und sich dort abzuschießen. Ich konnte ihn nicht wirklich dafür verurteilen, da er sowieso nicht dieselbe Sicht auf die Dinge hatte wie ich. Er kannte nur die berauschende Wirkung des Alkohols, den Spaß daran, so wie die meisten anderen in diesem Raum. Ich fühlte mich ein wenig wie das schwarze Schaf der Gruppe, ich gehörte dazu und doch war ich ein Außenseiter. Niemand würde jetzt verstehen können, warum ich kein lockeres Lächeln auf den Lippen trug und meiner Meinung nach konnte es auch einfach so bleiben. Sollten die anderen doch denken, was sie wollten, ich könnte mich niemals dazu überwinden über diesen bitteren Fakt zu lachen, wenn ich doch fast täglich miterlebte, wie zerstörerisch das alles sein konnte.

„Um euch einen groben Einblick in dieses Thema zu verschaffen, habe ich euch eine kleine Dokumentation mitgebracht.", meinte dann Mr Lee auf einmal, während er bereits dabei war den schweren Fernsehkasten nach vorn zu schieben. Kollektive Freude ging durch die Reihen, prallte an mir jedoch ab. Ich erwog mich jetzt einfach zu melden und mich zu entschuldigen, um auf Toilette zu gehen, doch insgeheim würde es ja auch nichts bringen. Ich wusste nicht wie lange dieser Bericht ging, was es auffällig und riskant für mich machte für eine längere Zeit einfach zu verschwinden. Außerdem.... konnte es nicht vielleicht sein, dass ich ein wenig übertrieb? Dass ich alles so dermaßen dramatisierte, wo der Bericht doch nur trockene Fakten über einen chemischen Stoff in Bildern zeigte?

Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her, rang innerlich mit mir selbst, doch kam nie wirklich zu einer Entscheidung. Erst ein lautes Geräusch, das aus den winzigen Lautsprechern des Fernsehers drang und unangenehm in den Ohren knirschte, da dieses alte Gerät nicht für solche Lautstärken ausgelegt war, holte mich aus meinen Gedanken zurück. Genau in diesem Moment wurde mir klar, dass es nun zu spät war und seufzend lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück. Lustlos hingen meine Augen an dem Bildschirm, der grade ein Intro zeigte und unwillkürlich verstärkte sich der Knoten in meinem Magen.

Eine Minute später wusste ich auch warum. Dieser "Bericht" behandelte Ethanol nämlich nicht als den chemischen Stoff, der er war, sondern beleuchtete vielmehr das, was ich bereits befürchtet hatte. Lachende Jugendliche sprangen durch das Bild, stellten sich als die größten und coolsten Leute dar, während sie haufenweise Hochprozentiges in ihren Rachen verschwinden ließen. Der Anblick widerte mich an, zeigte mir genau das, was ich so sehr an dieser Gesellschaft verachtete. Doch meine Mitschüler waren da anderer Meinung. Sie feierten das aufgesetzte Verhalten der Kinder im Fernsehen, machten sich über sie lustig und kloppten noch dumme Sprüche, die mir brechende Kopfschmerzen bereiteten.

Volle fünf Minuten starrte ich auf das Bild, sah diesen halben Kindern dabei zu, wie sie eine völlig falsche Sicht zeigten. Dann hielt ich es nicht mehr aus. Galle schoss meine Speiseröhre hinauf und angestrengt unterdrückte ich das Würgen, während ich von dem Lachen meiner Freunde und meiner Mitschüler umgeben war. Ich senkte den Kopf, doch die Geräusche wurden dadurch nur noch deutlicher. Zitternd hielt ich mir meine Finger über die Ohren, hoffte einfach in meinem Kopf verschwinden zu können, doch ..... Fehlanzeige.

Der Druck auf meine Bauchgegend wuchs und nach weiteren Sekunden des stillen Leidens sprang ich von meinem Stuhl und hetzte durch die Klasse nach draußen. Vor der Tür ließ ich mich geschafft an die Wand sinken und fuhr mir mit bebenden Händen durch die Haare. Von drinnen hörte ich immer noch vereinzeltes Gelächter und so gab ich auch diese Position auf und verschwand schließlich in der Jungentoilette. Irgendwie außer Atem stütze ich mich schwer auf die Ränder des Waschbeckens und blickte in den mit Schmutzflecken übersäten Spiegel vor mir. Unwirklich starrten mir meine braunen Augen entgegen, in ihnen ein Ausdruck, den ich noch nie zuvor darin gesehen hatte. Sie wirkten gehetzt, gequält und doch irgendwie......... ruhig. Wie als wären diese Ereignisse nur eine weitere Spitze, die mich im Endeffekt auch nicht weiter schocken könnten; dafür hatte ich schon zu viele Dinge miterleben müssen.

Geschafft ließ ich meinen Kopf wieder sinken und riss blindlings einen der Wasserhähne auf, um mir das eiskalte Wasser über die Handgelenke laufen zu lassen, wo mein Puls mir schnell und hart entgegenschlug. Zu meinem Glück beruhigte ich mich ein klein wenig, was jedoch gleich wieder zerstört wurde, als der hellbraune Haarschopf meines besten Freundes in der Tür erschien. „Jimin, alles okay? Warum bist du so schnell und ohne ein Wort verschwunden?" Er kam auf mich zu, in seinem Gesicht hunderte Fragezeichen, die ich nicht beantworten würde können. Bedächtig drehte ich den Wasserhahn wieder zu und wandte mich zu den Papiertüchern, mit denen ich mir über die feuchte Haut strich. Ich spürte wie die winzigen Tropfen von dem Papier aufgesogen wurden, was ein fast schon unangenehm klammes Gefühl auf meinen Händen zurückließ.

„Alles in Ordnung.", rang ich mir dann schließlich eine Antwort ab und vermied es in die klugen Augen meines Gegenübers zu blicken. Wie immer breitete sich der fade Geschmack einer Lüge in meinem Mund aus und erinnerte mich an die Übelkeit, die seit Tagen ein ständiger Begleiter von mir zu sein schien. „Bist du dir sicher?", er richtete diesen durchdringenden Blick auf mich und ich wusste, dass es mir nun schwerfallen würde, ihn nochmals so offen ins Gesicht zu lügen. Doch mir blieb nichts anderes übrig und so erwiderte ich nur ein ersticktes „Ja.", bevor ich mich schon der Tür zuwandte und den hellen Raum verließ, mein bester Freund dicht hinter mir und doch meilenweit entfernt.

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Falls ihr euch jetzt fragt, welcher Lehrer bei einem solchen Thema diese Art von Dokumentation/Bericht etc zeigt.... der Inhalt dieses Kapitels ist nicht ausgedacht. Denn mein Chemielehrer hat uns das damals gezeigt und ich hoffe einfach, dass ihr das nicht als komisch oder unwirklich empfindet. Ich bin mir in letzter Zeit ein wenig unsicher, was diese Story betrifft und möchte nur nochmal betonen, dass einiges davon keine reine Fiktion ist...

Trotzdem hoffe ich, hat euch auch dieses Kapitel gefallen, ich freue mich über jegliche Rückmeldungen <3

𝑀𝑖𝑟𝑟𝑜𝑟 | 𝑌𝑜𝑜𝑛𝑚𝑖𝑛 |Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt