#114 Kitaische Nächte

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War schon in Angevinien alles anders als in seiner Heimat, so war in Kitaien dann wirklich alles fremd für Ivenej.
Auch wenn er eigentlich nicht viel zu tun hatte als sich bei Taejo zu finden der nun das Land bereiste, war ihm schon klar, dass er auch als Symbol des Sieges über Silistrien galt. Er personifizierte für das Volk von Kitaien sozusagen den Untergang des Reiches seines Vaters.

Taejo hatte, zwar formal noch im Namen seines Vaters, seiner Heimat den großen Sprung nach vorne verordnet.
Dieser sah vor das Land, vor allem natürlich mit der Hilfe Angeviniens, möglichst rasch ins Industriezeitalter zu katapultieren.

Aber nicht nur mit der Hilfe Angeviniens, auch Sore mischte kräftig mit. Denn dort hatte man gute Gründe Kitaien nicht völlig in Abhängigkeit zu Angevinien geraten zu lassen.
Und so stand nun Ivenej einen Schritt hinter und seitlich von Taejo der eine Rede zur Eröffnung der mit der Hilfe des sorenischen 'Consortion 50 Frequni' elektrifizierten Pengkyu-Bergstrecke hielt.

Wobei das Engagement von Sore auch durch Angevinien sehr befürwortet wurde. Da die angevinische Industrie die Fertigung elektrischer Eisenbahnen die mit einer Wechselspannung von 50 Frequenzeinheiten (FU) betrieben wurden noch nicht so wirklich gut beherrschte, in New Lugunia und New Ecossia fuhr man mit Wechselspannung von 25 FU oder Gleichspannung von 3000 Spannungseinheiten. Letzteres verwendete man auch in Ecossia und in Lugunia fuhr man sogar mit nur 1500 Spannungseinheiten.
Sowas verwendete man in Sore eher für Straßenbahnen.
Angevinien, dass nach sorenischem Vorbild neue Strecken für sehr hohe Geschwindigkeiten plante, war sich im klaren darüber, dass man die am besten eben mit Wechselspannung von 50 FU betreibt und Trevor, der sich für diese Projekte sehr einsetzte hatte Taejo zugeraten Sores Angebot anzunehmen um so über den Umweg von Kitaien Industriespionage betreiben zu können.

Hoch oben auf dem Podest fühlte sich Ivenej sehr unwohl. Auch wenn die Kitaier ihm immer scheinbar freundlich begegnete bemerkte er ihre Verachtung. Und als Junge von gerade einmal siebzehn Jahren litt er darunter.
Er litt still, denn bei wem hätte er sich denn auch darüber beschweren werden.
Wie hätte er auch ahnen können, dass Taejo ihn sehr wohl im Augen hatte und es dem Prinzen auffiel, wie die Schwermut immer mehr Einzug hielt in Ivenejs Augen.
Das beunruhigte Taejo durchaus, denn es war ganz sicher nicht seine Absicht, dass der junge Silistrier in seiner Obhut zugrunde ginge.

Natürlich wusste er über die Geschichte von Silistrien und seiner Heimat. Auch wenn die Silistrier, die 'stinkenden Langnasen aus dem Westen' sich nicht derart übergriffig verhalten hatten wie die Sorener, die 'Langnasen des Ostens' getan hatten, hatten sie doch immer wieder – und eben manchmal mit Erfolg – versucht die Schwächen Kitaiens auszunutzen und ihr Gebiet auf Kosten Tihonguks auszuweiten.
Das hing in der Erinnerung seiner Landsleute natürlich nach und von daher machte sich Taejo auch keine Illusionen darüber, wie diese über Ivenej dachten oder diesem begegneten, besonders wenn er gerade nicht hinsah.
Und es machte ihn froh, dass die Geschichte die seine Heimat mit Angevinien hatte, eine war, in der es um Handel und schlimmstenfalls ein wenig wechselseitige kulturelle Aneignungen ging. Auch wenn er und Trevor Jahrhunderte Zeit haben würden ihre Reiche zu vereinen, dass dem Vorhaben kein historischer Ballast im Wege stand wusste er zu schätzen.
Aber Nordenland und die von diesem gehaltenen Teile Silistriens würden ja auch irgendwann dazu gehören. Von daher war es ratsam dem eigenen Volk frühzeitig vor Augen zu führen, dass es auf den Menschen ankam und nicht auf dessen Ethnie. Und wie finge er das besser an, als mit einem Silistrier in seinem Gefolge.

So bat er eines Abends als sie auf der Insel Namhai waren, Ivenej zu sich in sein Gemach.
Was der arme Junge natürlich völlig falsch verstand und so kam es, dass sich Taejo der von seiner Terrasse aus auf dem Golf von Beibu schaute unvermittelt in der Gesellschaft eines vor Angst zitternden Blondschopf wiederfand.

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