Kapitel 41.

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Noctana holte Ophelia, Manare suchte nach Wyatt und James.

Die kleine Gruppe traf sich in der Bibliothek, schmerzlich stachen ihnen die leeren Plätze von Lena und Carter in die Augen.

Sie waren feste Bestandteile ihrer alten Gruppe gewesen. Jetzt waren nur noch langsam vergehende Erinnerungen von ihnen übrig. 

„Was ist los? Noctana ist fuchtbar im Erklären.", meinte Ophelia.

„Es geht um ...", Manare warf einen Blick auf Wyatt. „Es geht um Lena."

Die Stille war plötzlich erdrückend, trieb ihnen die Tränen in die Augen.

„Okay. Was genau meinst du damit?"

„Ich weiß, wir sollen uns unsere Rollen nicht verraten und ich will eure auch nicht wissen, oder ... also: Ich kann mit Toten reden."

„Mit Toten?", fragte James. „Mit ... Leichen?!"

„Warum bist du eigentlich schon wieder hier?", fragte Ophelia an James gewandt. „Ich dachte, du hattest Spezialunterricht?"

„Hatte ich auch. Aber das heute war wirklich albern. Ich glaube sie hat mich mit Christopher verwechselt! Ich musste einen Weg aus dem Keller finden."

„Gegen wieviele Wände bist du gerannt?", fragte Ophelia, den Blick immernoch auf die blauen Augen von ihm gerichtet. James lächelte unfreiwillig: „Ich war wirklich gut!"

„Können wir bitte wieder zurück zum Thema?! Es geht um Lena!", meinte Wyatt, seine Stimme zitterte, seine Augen leuchteten fiebrig.

„Es gibt ein kleines Problem. Ähm ... wenn ich mit Werwölfen rede, also, Kontakt mit toten Werwölfen aufnehme ... sterbe ich."

„Was?", fragte Noctana geschockt.

„Hätte ich dir vielleicht sagen sollen.", meinte Manare an Noctana gewandt, die Haare fielen ihr vor die dunklen Augen.

Ihre Iris wirkte wie eine Mauer, gebaut aus schwarzen Steinen.

„Vielleicht, ja.", erwiderte Noctana, die das Gefühl hatte, irgendetwas dazu sagen zu müssen.

„Lena war kein Werwolf.", meinte Wyatt bestimmt.

„Ach ja? Woher weißt du das? Oder willst du einfach nur mein Leben aufs Spiel setzten?"

„Ich glaube auch nicht, dass sie ein Werwolf war.", sagte James.

Ophelia biss sich auf die Lippe. Die Puzzlestücke in ihrem Kopf vereinten sich langsam.

„Manare, bitte!", drängte Wyatt. Er hatte nie besonders viel mit seiner Schwester zu tun gehabt, aber jetzt wo sie weg war, fehlte die Sonne in seinem Leben, die er nie wirklich bemerkt hatte.

Er hätte ein guter Bruder sein sollen. Er hätte ihr helfen sollen: Stattdessen hatte er die Tränen in Lenas Augen ignoriert, sich von ihrem fröhlichen Lächeln täuschen lassen, wie alle anderen auch.

Dabei war er ihr Bruder, nicht irgendjemand aus dem verdammten Waisenhaus!

„Ich glaube, du musst dir keine Sorgen darüber machen. Wenn du einer Person vertrauen kannst, dann Lena.", sagte Ophelia. Sie meinte etwas anderes.

Etwas komplett anderes.

Lena hatte am Boden gelegen, die ganze Zeit. Trotzdem hatte sie es geschafft, weiterhin die gute Seite von absolut allem zu sehen, alle Blumen zu finden die zu finden waren.

Sie hätte es niemals so lange geschafft, mit dem Druck der Rolle des Werwolfes gerecht zu werden.

Sie hätte sich schon vor dem Spiel versucht umzubringen.

All das sprach Ophelia nicht aus, hoffte, das Manare dieselben Schlüsse zog.

Aber das tat sie nicht.

„Okay, ich werde ... es tun.", sagte Manare.

„Danke.", meinte Wyatt schnell. „Ich meine ... danke."

Manare nickte und schloss die Augen.

„Weißt du wie es geht?", wisperte James.

„Die Spielleiterin hat es mir erklärt. Aber ich weiß nicht, ob es auch außerhalb des Spieles geht, ich meine, ihr habt eure Fähigkeiten ja auch nur, wenn-"
„Wir haben die Grenzen noch nie ausgetestet.", unterbrach sie Ophelia. „Ich denke, es wird funktionieren."

Manare hatte Angst.
So unglaublich große Angst.

Ihre größte Angst?
Die Angst, mit der die Spielleiterin sie immer wieder quälte? Das war der Tod.

Es war nicht nur die leichte Angst, die die meisten hatten.
Allein das Denken an das „Ende" ließ sie absolut durchdrehen, bei dem Sehen eines Grabsteines wollte sie sich schreiend in einer Ecke verkriechen. 

Noch nie hatte das jemand verstanden. "Der Tod ist etwas natürliches, Manare. Du kannst es nicht verändern, du musst es akzeptieren!", hatte ihre Philosophielehrerin immer gesagt und dann mitfühlend gelächelt.

Manare hatte das so sehr gehasst.

Damals, in der Zeit vor dem Waisenhaus hatte sie diese panische Angst vor dem Tod Nachgeschlagen:

Thanatophobie - Die Angst vor dem Sterben.

Und jetzt würde sie es wieder tun: Sie würde sich näher zum Tod bewegen als sie wollte.

Sie schloss die Augen, tat so, als würde sie sich konzentrieren.

Sie KONNTE nicht mit Lena reden.

Was, wenn Lena ein Werwolf war? Es gab keine Gegenbeweise! Sie würde ...
Sie würde sterben.

Aber sie hatte eine andere Möglichkeit: Carter.

Die Spielleiterin hatte ihr seine Rolle beschrieben, zwar seinen Namen nicht genannt, aber Manare war sich ziemlich sicher, dass sie ihn meinte.

Er war der Mörder. Seine Aufgabe? In der ersten Nacht jemanden zu töten.

Und er hatte Lena getötet. Seine Freundin.

Dann hatte er sich selbst erstochen. Aber warum?

Manare biss die Zähne zusammen und entschied sich dafür, Carter zu kontaktieren. So würde sie immerhin nicht sterben. Das, was sie wissen wollte hatte schließlich etwas mit Lena zu tun aber würde vermutlich auch im Gespräch mit Carter herauszufinden zu sein. Es würde sicher niemandem auffallen!

Also rief sie sich sein Gesicht in Erinnerung.

„Fasst euch an den Händen.", sagte sie, hielt die Augen weiterhin geschlossen.

„Was?"

„Wir müssen uns alle berühren. Und schließt die Augen."

Ophelia griff nach der rechten Hand von Manare, James umschloss Ophelias linke. Sie sahen sich kurz an, sagten kein Wort.
Wandten sich wieder voneinander ab.

Es genügte, um zu zeigen, dass sie nicht allein waren. Nicht mehr.

Wyatt saß zwischen James und Noctana, letztere schloss den Kreis wieder, die rechte Hand in der linken von Manare.

„Versucht, nicht zu denken. Sonst vermischt sich nur alles!", warnte Manare. „Und redet nicht. Bitte. 

Ich muss mich konzent- Ich habe den Kontakt.

Er sagt, er wird es uns zeigen."

„Was wird er uns zeigen?", flüsterte Noctana, aber niemand hörte sie, also schloss auch sie die Augen.

Doch sie sah nicht das gewohnte schwarz - vor ihren geschlossenen Lidern wirbelten die buntesten Farben durcheinander, bildeten langsam ein Bild.

Bildeten langsam eine Erinnerung, die nicht von ihr war.

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Kurze Zwischenfrage: Was haltet ihr von den verschiedenen Charakteren?


Werwolf - das BlinzelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt