Kapitel 70.

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James drückte mit angehaltenem Atem die Klinke herunter und zog vorsichtig an der Tür, so, als hätte er Angst, dass er sie irgendwie versehentlich zerstören würde.

Zuerst passierte nichts, also drückte er stattdessen gegen die Tür und sie schwang plötzlich erstaunlich leicht auf. James stolperte überrascht in Raum null: „Wow."

Er wusste nicht genau, was er erwartet hatte. Vielleicht einen großen Raum, gefüllt wie eine Bibliothek, voller uralter Aufzeichnungen auf Pergament und natürlich ganz viele stumpfe Stifte.
Jedenfalls nicht das hier: Der winzige Raum war gefüllt mit einem Hocker aus schlichtem, altem Holz und einem großen Papierstapel, auf dem nur ein einziger, angespitzter Bleistift lag. 

Der Raum, der eigentlich nicht mehr als nur eine Kammer war, hatte kein Fenster, eine nackte Glühbirne hing als einzige Lichtquelle an der Decke.

Ophelia ging schnurstracks auf den Papierstapel zu (obwohl man das eigentlich nicht „gehen" nennen konnte, sie machte nichts weiter als einen einzigen Schritt nach vorne). Dann zog sie ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und hob das erste Blatt Papier von dem Stapel.

„Wieso-", fragte Wyatt und deutete verwirrt auf das Taschentuch. 

„Ich würde ungerne Spuren hinterlassen, wie zum Beispiel Fingerabdrücke oder so. Reine Vorsichtsmaßnahme.", antwortete Ophelia und kniff die Augen ein wenig zusammen um die Schrift besser entziffern zu können.

„Wir müssen die Tür zumachen. Sonst sieht uns noch jemand.", meinte James und zog bereits während seiner Worte die Tür zu.

Wyatt drehte den Lichtschalter hinter sich und die Glühbirne ging mit einem leichten Klacken an. Hier standen sie also alle. Jeweils nur wenige Millimeter voneinander entfernt.

„Also, was steht da?", fragte James angespannt und versuchte, sich ein paar Haare aus der Stirn zu streichen, wobei er Wyatt fast mit seinem Ellbogen ins Gesicht schlug.

Ophelia hatte die erste Seite überflogen und nach mehreren anderen gegriffen: „Das hier ist noch das jetzige Spiel."

„Soll ich mitlesen, damit es-", fing James an.

„Nein.", meinte Ophelia knapp. Sie nahm die nächste Seite. 

James und Wyatt sahen ihr schweigend bei dem schnellen Lesen zu – Ophelias Augen weiteten sich manchmal, teilweise fing sie an zu zittern, wodurch ihr einige Blätter fast aus der Hand fielen. 

Hier war wirklich alles. 

Die Spielleiterin hatte jede einzelne Regung, egal von wem, notiert und interpretiert. 

Ophelia atmete stockend ein, als jede einzelne Rolle langsam enthüllt wurde.

„Was ist?", fragte James.

„Ich bin bei Lenas Tod.", antwortete Ophelia flüsternd. „Mein Gott, wie hat sie das alles überhaupt gesehen, von dieser Kammer aus?!"

Wyatt musterte scheinbar interessiert die Decke über ihnen.

„Ich bin bei der nächsten Runde.", sagte Ophelia dann.

„Was?"

„Die Runde vor uns.", ergänzte Ophelia, das alte Papier knisterte leise. Ihr Herzschlag ging schneller.

Rolle über Rolle, Handlung über Handlung, flog an ihr vorbei.

Von dem Gewinnen der Werwölfe, bis zu der Auswahl des Amors. Doch keine der Rollen schien in irgendeiner Weise besonders gefährlich für das Spiel zu sein. 

Leicht enttäuscht und doch immer noch gespannt griff Ophelia nach den Aufzeichnungen der ersten Runde des Spieles Werwolf, die die jetzige Spielleiterin im Lacrim Waisenhaus veranstaltet hatte.

Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now