Kapitel 52.

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Die Aufregung sank.

Eine lange Zeit passierte nichts, Noctana hielt die Augen geschlossen.

Sie wollte gerne einschlafen, nur in diesen leichten Schlaf sacken, aus dem auch das kleinste Geräusch einen schon reißen konnte.

Aber sie blieb wach, hörte jedes Knarzen und Knacken der Dielen.

Und dann, endlich, öffnete sich eine weitere Tür.

Warum bist du so erleichtert? Freust du dich auf den nächsten Todesfall?, fragte die Stimme höhnisch.

„Du bist noch da?", flüsterte Noctana, ihre Laune, die auch so schon am Boden lag, verschlechterte sich erheblich, sank ins bodenlose. 

Hatte sie wirklich geglaubt, die Stimme würde weggehen? Ja, sie war naiv, aber ... vielleicht sollte sie einfach aufhören zu hoffen.

Würde sie nicht hoffen, könnte sie auch nicht mehr enttäuscht werden.

Natürlich bin ich noch da! Also, warum die Freude?

Ich will einfach dass es vorbei ist, dachte Noctana.

Ein leises Knurren, das definitiv nicht von der Stimme in ihrem Kopf kam, hallte durch den Flur. Noctana spürte, wie Gänsehaut anfing ihre Arme zu überziehen, kroch trotzdem nach vorne und wendete den Kopf um sehen zu können, was dort passierte.

Der Werwolf mit dem weißen Fell war zurück, den stechenden Blick auf eine der Türen gerichtet.

Noctana hatte kein besonders gutes Langzeitgedächtnis – wenn sie früher Vokabeln gelernt hatte, waren sie nach ein paar Tagen auch wieder verschwunden.
Dieses schnelle Vergessen war einer der Gründe dafür, dass sie sich nicht wirklich merken konnte, wer in welchem Zimmer lebte.

Die Türen sahen, bis auf die Zahlen, für sie alle gleich aus.

Aber als Noctana jetzt die Augen zusammenkniff, um besser erkennen zu können, wessen Tür der Werwolf gerade anstarrte, durchfuhr die Erkenntnis sie wie ein Blitz einen hoch gewachsenen Baum.

Das war James Zimmer.

Hinter dieser Tür lag er und schlief – nichtsahnend, dass er das nächste Opfer des weißen Werwolfes werden würde.

Oder wusste er es schon lange?

Noctana würde es wohl nie erfahren, denn der weiße Werwolf schien sich jetzt endgültig dafür entschieden haben, James umzubringen.

Ophelia, schoss es es Noctana durch den Kopf, die kalte Angst umhüllte sie.

Der Werwolf trat näher an die Tür.

Sie konnte Ophelia nicht sterben lassen! Ophelia DURFTE nicht sterben!

Noctana würde es nicht aushalten, allein hier zu sein. 

Tja. Aber du hast ja noch mich!

„Halt die Klappe.", zischte Noctana ins Nichts, stand auf und lief los, bemühte sich nicht einmal ihre Schritte zu dämpfen.

HEY! Was tust du?!

Ich weiß es nicht, dachte Noctana.

Doch.

Doch, sie wusste es. Sie würde den weißen Werwolf davon abhalten, James zu töten.

Koste es was es wolle.

„Hey!", brüllte sie. „HEY!"

Ganz langsam wendete der weiße Wolf den Kopf, knurrte agressiv.

Noctana lief näher auf ihn zu, obwohl mit jedem Schritt das Bedürfnis in ihr wuchs wegzulaufen und sich irgendwo zu übergeben.

Um das Maul des Werwolfes prangten, gut im weißen Fell sichtbare, längst getrocknete Blutspritzer.

Noctana schluckte: „Hey."

Der weiße Werwolf knurrte und sprang nach vorne, aber Noctana wich hektisch rückwärts aus – und lief los.

Sie erinnerte sich an den Sportunterricht an ihrer alten Schule, erinnerte sich an das Sprinten.

Sie war nie eine der Langsamsten gewesen, aber auch nie eine der Schnellsten; Mittelfeld eben.

Das gute daran, im Mittelfeld zu laufen, war, nicht aufzufallen.

Keine Lacher oder bemühte, künstliche Aufmunterungen.

Aber das schlechte daran, im Mittelfeld zu laufen, war, nicht aufzufallen.

Kein Lob, kein Applaus. 

Nie.

Sie lief im Schatten – aber jetzt, ausgerechnet jetzt, wo sie von einem weißen Werwolf verfolgt wurde, der alles daran setzte sie zu töten, freute sie sich, gesehen zu werden.

Bist du krank oder so was?

„HALT DIE KLAPPE!", schrie Noctana laut, obwohl ihre Lunge protestierte. Ihre Füße hauten hart auf den Boden, ihr Herzschlag fühlte sich an wie der Schlag eines Hammers, ihr Atem ging hektisch; und sie erreichte das Ende des Mädchenflures.

Du weißt schon, dass du gerade den Tod herausgefordert und verloren hast, oder?

Noctana zuckte zusammen.

Das stimmte. Oder?

Oder ...was, wenn die Zeit viel wichtiger war, als sie angenommen hatte? Sie wurden doch alle müde, wenn sie ihre Aufgaben erfüllt hatten, oder?

Aber was, wenn es gar nicht darum ging, alles erfüllt zu haben, sondern einfach nur darum, dass die Zeit abgelaufen war?

Hatte Ophelia deshalb das Gefühl gehabt, gewürgt zu werden? Hatte die Spielleiterin einfach gedacht, sie würde ihre Zeit verplempern und hatte eingegriffen, damit Ophelia nicht einschlief, bevor sie sich eine Karte hatte ansehen können?

Noctana fing wieder an zu hoffen.

Sie musste nur lange genug durchhalten, um den weißen Werwolf von James Zimmertür fernzuhalten.


Werwolf - das BlinzelmädchenWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu