Kapitel 58.

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„Ich hab nach Essen gesucht.", stotterte Noctana unsicher, ihr Hände fingen an zu schwitzen.

„Gib das her!", sagte das Mädchen, Ariane, steif und griff nach dem Foto. Noctana gab es ihr sofort, versuchte gar nicht erst es zu behalten. Warum sollte sie auch?!

„Warum versteckst du deine Klamotten unter dem Bett?", fragte Noctana dann.

Ariane wickelte das Foto behutsam wieder in einen der Pullover und schob es zurück unter die Matratze. Dann wandte sie sich Noctana zu: „Was?"

„Die ordentliche Seite im Schrank ist deine, oder?"

Ariane nickte: „Ja. Ich bin ... ziemlich perfektionistisch."

„Warum sind diese Klamotten dann-"

„Das geht dich nichts an.", unterbrach Ariane sie schneidend, ihr Tonfall wurde wieder schärfer. „Es ist schon schlimm genug, dass du in meinen Sachen herumgewühlt hast!"

„Aber-"

„Raus."

„Vielleicht kann ich dir hel-"

„RAUS!", rief Ariane wütend, deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Tür.

Noctana senkte den Kopf, stand auf und lief aus dem Zimmer.

Sie meinte, Arianes stechenden Blick auf ihrem Hinterkopf zu spüren.

Doch als sie sich vorsichtig umdrehte, sah sie nur, wie Ariane vor ihrem Bett kniete, den Blick auf die unordentlich zusammengeschmissenen Sachen darunter gerichtet.

Sie versuchte nicht einmal, irgendetwas aufzuräumen.

.-.-.-.-.-.

Ophelia war in den Keller gelaufen.

Zwar hasste sie diesen Ort, hasste die Angst, die sie verspürte wenn sie die Wege dort unten entlanglief, hasste die Erinnerungen an all die Momente hier unten, die sie eigentlich am liebsten vergessen hätte.

Die Erinnerungen an so viele Schreie, einige unterdrückt, andere von den Wänden widerhallend, und doch für niemanden außer ihr hörbar.

Die Erinnerung an die Schmerzen; die psychischen, die sie bis in die Verzweiflung geführt hatten, die physischen die sie sich selbst zugefügt hatte, um nicht komplett durchzudrehen.

Aber sie wusste auch, dass der Keller für die meisten von ihnen nur mit Schlechtem assoziiert wurde, dass fast niemand freiwillig über den steinernen Boden der verzweigten Gänge lief.

Die Spielleiterin schickte sie gerne in ihre schlimmsten Erinnerungen, in ihre Albträume – weshalb Ophelia fest davon überzeugt war, dass dort unten Essen versteckt war.

Sie musste schnell sein.

Sie wusste selbst, dass einige hier Giftstoffe lagerten, woher auch immer sie solche hatten.

Schließlich hatte auch sie ein paar wenige solcher Vorräte. Es verlieh ihr manchmal ein Gefühl der Sicherheit, auch wenn sie wusste, dass sie es vermutlich niemals schaffen würde jemandem wirklich das Leben zu nehmen, selbst wenn sie musste.

Ophelia hatte nicht vor, das Essen anderer zu vergiften. Sie wollte nur eine Sache erwischen, egal, was es war. Hauptsache sie wusste sicher, dass sie die erste war, die es sah.

Dass niemand vorher die Chance gehabt hatte, irgendetwas hineinzumischen.

Und doch stand sie jetzt hier, am Anfang des Hauptweges des Keller, wo sie doch eigentlich rennen wollte.

Rennen sollte.

Aber alles was sie sah war verschwommen, es war als würde sie die Schatten ihres vergangenen selbst sehen.

So viele Stunden.

So viele furchtbare Stunden.

Ophelia schloss die Augen, biss sich so fest auf die Lippe, dass ein kleiner Bluttropfen auf ihr Kinn lief.

Ihre Fingernägel bohrten sich fest in ihre Handflächen.

Doch die Erinnerungen stoppten nicht.

„Feely."

Sie fuhr herum. Es war James. Natürlich war es James.

„Hey.", sagte er mit belegter Stimme, sah ihr in die Augen, bis Ophelia den Blick wieder auf den vor ihnen liegenden Flur wendete.

„Hey.", wiederholte sie dann. Ihre Stimme war kurz davor zu brechen, doch sie hielt sie.

„Erinnerungen, oder?", fragte er dann.

Er berührte sie nicht, und doch spürte Ophelia seine Nähe deutlich.

„Natürlich.", antwortete sie.

„Beleidigend."

„Wieso?", fragte sie. „Du magst es hier, oder wie?"

„Ich mag eine Sache, die hier passiert ist.", antwortete er leise.

„Was meinst du?"

James lächelte, hielt seine Hand hoch. Ophelia sah ihn fragend an.

„Du hast Angst. Also gehen wir zusammen."

„Wieso?"

„Wieso nicht? Du sagtest doch: Wir wissen nicht, wie lange wir noch leben.", meinte James. Ophelia legte ihre Hand in seine.

„Irgendwelche Ideen wo Essen liegt?", fragte James. Ophelia versuchte krampfhaft nicht zu oft zu ihren ineinander verschränkten Händen zu gucken: „Ich tippe auf den Messerraum."

„Wir gehen nicht in den Messerraum.", sagte James.

„Aber-"

„Du musst dich nicht immer quälen. Also, irgendwelche anderen Theorien?", fragte James.

„Es könnte überall sein. Es ist schlauer, wenn wir uns aufteilen."

„Sicher?", meinte James, sah Ophelia zweifelnd an.

„Es ist die logische Variante."

„Wie wäre es, wenn wir die nehmen, die für uns-"

„Logik.", unterbrach Ophelia ihn. James seufzte, drehte sich um und machte Anstalten in einen der Gänge anbzubiegen.

„Warte.", sagte Ophelia, legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Zwei Sachen: Erstens, wie wäre es wenn wir vorher absprechen wer in welche Richtung läuft."

„Ich nehm die.", sagte James, nickte in die Richtung des Flures auf den er eben abbiegen wollte.

„Und zweitens.", meinte Ophelia. „Stirb bitte nicht. Oder so."

„Damit du nicht stirbst? Keine Sorge, dein Leben ist bei mir sicher.", sagte James leise.

„Das ... meinte ich damit eigentlich nicht.", entgegnete Ophelia, spürte wie ihre Wangen rot wurden. „Wir sehen uns ..."

„Später. Ich finde dich schon.", sagte James zuversichtlich.

Ophelia nahm ihre Hand von seiner Schulter, trat von ihm zurück und rannte in einen der Flure.

Sie hatte viel zu viel Zeit vergehen lassen.

Wenn sie sich jetzt nicht beeilte, hätte sie keine Chance mehr, irgendetwas essbares zu finden.


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now