Kapitel 73.

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„Hier ist das Ende.", sagte Wyatt und tippte auf die letzte Szene, die auf dem Zaun dargestellt war.

Sie waren einmal komplett um das Waisenhaus herum gelaufen, hatten sich jede Figur einzeln angesehen. Mit der Zeit wurden ihre Gespräche immer kürzer, ihre Sätze abgehackter, ihre Stimmen erschöpfter.

Immerhin hatte es aufgehört zu regnen.

„Der Sieg der Werwölfe.", sagte Ophelia. „Jedes mal der Sieg der Werwölfe."

„Wieso müssen wir dieses Spiel überhaupt spielen?! Wenn doch sowieso klar ist, wer gewinnen wird?!", fragte James.

„Das ist kein Spiel mehr.", entgegnete Ophelia. „Es war nie ein Spiel.
Es war ein Massaker. Vielleicht eine Art Experiment. Ein Versuch. Massenmord. Aber es war nie ein Spiel."

„Okay. Aber ehrliche Frage, was hat uns die halbe Stunde oder so, die wir damit verbracht haben, diesen Zaun anzustarren, jetzt nochmal genau gebracht?", fragte Wyatt müde.

„Es ist ein Kreis.", murmelte James. „Es endet mit dem Sieg der Werwölfe. Es beginnt mit dem Austeilen der Karten."

„Und da muss irgendwo etwas sein, was wir zerstören müssen und dann wird alles gut?!", zweifelte Wyatt. „Ganz ehrlich: Merkt ihr eigentlich wie verrückt das klingt?!"

„Ja.", sagte Ophelia und guckte dann wieder auf den Zaun. „Was hat die Spielleiterin aus den Etuis herausgeholt?"

Wyatt sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an: „Du weißt, dass der Zaun dir nicht antworten kann und auch nicht wird, oder?"

„Ja.", antwortete Ophelia. „Okay; Ich glaube wir standen lange genug hier, oder?"

„Phase zwei?", fragte James.

„Phase zwei.", stimmte Ophelia ihm zu. „Einer von uns geht vor und sammelt die anderen ein. Alle anderen."

„Und mit alle meinst du-", fing James an.

„Alle.", bestätigte Ophelia. „Wobei, nein, das wäre vermutlich ziemlich dumm. Wir brauchen Sophie, Andrew, Joseph, Marten, Ivy, Eliza und Caleb. Und natürlich Noctana, Nolan und Manare. Das sollte aber logisch sein. Die anderen beiden bleiben noch draußen bei dem Zaun-"

„Ich versammle die anderen.", unterbrach Wyatt sie mit hochgehobenen Händen. „Ich habe genug von diesem Zaun für die nächsten zehn Jahre gesehen!"

Dann drehte er sich auf dem Absatz um und rannte zurück ins Waisenhaus.

„Die Zeit läuft.", sagte James zu Ophelia. „Wir wissen nicht, wie lang wir wirklich draußen waren und die Versammlung-"

„Ich weiß.", unterbrach sie ihn.

„Müssen wir jemanden dabei umbringen? Bei der Versammlung?", fragte James.

„Ich wünschte, ich könnte nein sagen.", antwortete Ophelia ernst.

Hier standen sie also, nebeneinander am Zaun.
An dem Zaun, der so vieles erzählte: So vieles, was sie jetzt erst entschlüsselt hatten.
Sie waren anders; diese ganz Runde war so anders. Die Vorhersagen des Zauns gerieten durcheinander.

Das doppelte auftauchen des Amors.
Der viel zu schnelle Tod der Hexe.
Das Fehlen von Rollen.

Und doch: Würden sie weiterspielen, würden die Werwölfe gewinnen. Vieles am Spiel schien veränderbar zu sein, nicht aber das Ende.
Vielleicht würden die Werwölfe dieses mal nur knapp gewinnen, aber sie würden die Sieger sein.

„Wir würden sowieso beide sterben.", meinte Ophelia plötzlich.
„Was?", fragte James verwirrt, während der Regen wieder einsetzte, dieses mal stärker als zuvor. „Ich hätte einen Regenschirm mitnehmen sollen. Warte-"

Er zog sich seinen nassen Pullover über den Kopf.

„Das ist so ziemlich das dümmste, was man bei Regenwetter machen kann.", meinte Ophelia und sah James an, der jetzt statt des Pullovers nur noch ein schwarzes T-Shirt ohne jeglichen Aufdruck trug.

James hob den Pullover hoch und hielt ihn wie einen kaputten Regenschirm über Ophelia und sich selbst.

„Zurück zu dem was du eben gesagt hast. Was meinst du? Wieso würden wir beide sterben?", fragte James.

„Natürlich könnten wir versuchen, als einzige zu überleben, aber ... nein, das ist quasi unmöglich.
Also, wenn die Werwölfe ... wenn ihr ... wenn die Werwölfe gewinnen, dann müssen alle anderen tot sein. Sie würden mich dafür töten müssen.", sagte Ophelia langsam.

„Und ich würde mit dir sterben.", ergänzte James, genauso leise.

„Tut mir leid."
„Nein, es ist ... wir halten es doch auf! Im besten Fall. Und außerdem ist sterben besser, als ...", James stockte.

„Als was?"

„Ophelia, ich weiß, das klingt irgendwie bescheuert und seltsam, aber ich will nicht ohne dich gewinnen." James betrachtete Ophelia genau, wartete auf den Moment, in dem ihre Augen sich zu klaren schienen.

Der Moment, in dem sie die ungesagten Worte hinter seinem Satz verstanden hatte.

„James-"

„Denk daran, wir müssen nicht sterben. Wir werden das Spiel beenden.", meinte James.
Ophelia öffnete den Mund, doch sie sagte nichts. Stattdessen sah sie hoch, in James Augen.

Das hatte sie schon oft getan, doch noch nie war ihr Blickkontakt so ehrlich gewesen und vielleicht auch noch nie so traurig, wie gerade jetzt.

Sie traten beide einen kleinen Schritt näher aufeinander zu. Fast unmerklich verringerte sich ihr Abstand.

Der Sicherheitsabstand, den beide sich angewöhnt hatten zu wahren, schwand.

Ein letztes mal verhakten sich ihre Blicke ineinander, als sie schließlich die letzte Distanz überwanden.

James hatte den Pullover längst sinken gelassen, stattdessen legte er die Hand sanft an Ophelias Kinn, als seine trockenen Lippen auf die aufgebissenen von Ophelia trafen.

Der Kuss schmeckte nach Blut, Salz und Hoffnung.

In diesem Moment waren sie nicht Werwolf und Seherin.
Sie waren James und Ophelia.

„Wir sollten rein gehen.", sagte Ophelia schließlich nach ein paar Sekunden zögernd und trat einen Schritt zurück.

„Stimmt. Wir müssen ja noch ein Waisenhaus abbrennen.", meinte James grinsend, hielt Ophelia dann seine rechte Hand hin und sah sie fragend an.

„Das wäre extrem dumm. Denn es regnet, was heißt, dass das Gras nass und rutschig ist. Und wenn einer von uns ausrutschen würde, würde der andere auch hin-", fing Ophelia an.

James sah sie amüsiert an: „Okay. Dann wann anders."

„Lass uns einfach reingehen.", meinte Ophelia, drehte sich um und ging zurück zur Eingangstür. James folgte ihr.



Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now