Kapitel 45.

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„Wer stimmt ab für Dylans Tod?"

Noctana hob die Hand, genau wie zwei andere Jungen und Eliza.

Sie waren zu viert.

„Vier.", bemerkte die Spielleiterin unnötigerweise. Dylan atmete tief aus.

„Wer stimmt für Ophelias Tod?"

Ophelia schloss die Augen, als die erste Hand nach oben ging.

Wollte sie wirklich wissen, wer sie sterben sehen wollte?

Wollte sie sehen, wer für sie Gefahr bedeutete?

Ja.

Ophelia nahm Sachen nicht gerne hin. Sie überdachte die Dinge zu lange und erinnerte sich genau an die Kleinigkeiten, die für Spannungen sorgten.

Während die anderen eben diese Erinnerungen verdrängten und an den Rand des Vergessens schoben, verwahrte Ophelia sie. 

Bereit, sie bei dem nächsten Problem als Racheoption offen zu halten.

Also zwang sie sich, die Augen wieder zu öffnen.

Wie erwartet war es Sophie, die die Hand am höchstens hielt.

„Acht."

Noctana bekam Angst. Das waren zu viele.

Das waren viel zu viele.

Ophelias Blick wanderte zu James, der sie voller unterdrückter Angst ansah. Ihr Herz klopfte immer schneller, obwohl sie sich bemühte, möglichst gleichmäßig und ruhig zu atmen.

Ob es wegen James oder dem viel zu nahen Tod war, wusste sie nicht.

Wie würde es eigentlich passieren?

Wie würde die Spielleiterin sie hinrichten?

Egal wie es sein sollte: Sie hoffte nur, dass sie davor noch die Möglichkeit hatte, ein paar Worte an ihre Freunde zu richten.

Ein paar Sachen zu klären, die sie so lange schon mit sich herumtrug.

„Als letztes: Wer stimmt für Tabeas Tod?"

Luise hob zitternd die Hand, mit ihr einige andere.

Noch waren es sechs.

„Überlegt bitte schneller.", sagte die Spielleiterin.

Ophelia dachte scharf nach.

Luise und Tabea waren befreundet, sie hatten sich gegenseitig unterstützt, sie hatten an einem Tisch gesessen.

Luise war Tabea nie feindlich gesinnt gewesen.

Ihr fiel die Bitte von Lena an Carter wieder ein: Lena hatte den Tod gewollt.
Das hier war ein ähnliches System.
Tabea wollte den Tod.

Wie lang hatte sie gebraucht um ihre Freundin zu überreden, sie vorzuschlagen? Sie dem Tod auszuliefern?

Hatte sie geweint? Wenn ja: Wie stark?

Und wie ging es ihr jetzt?

Sie sah Tabea an.

Die hellen Augen waren trocken, ihre Stirn entspannt.

Ophelia hob die Hand.

„Sind alle fertig?"

Noctana schloss die Augen, wollte nicht zählen ob es genügend Hände waren um Ophelia zu retten.

Was sollte sie machen, wenn es nicht genügend waren?

Wer würde ihr helfen, in der Realität zu bleiben?

Wer würde sie morgens dazu überreden, das Zimmer zu verlassen?

„Acht."

Und jetzt? Würden Ophelia und Tabea beide sterben?

Oder würden beide überleben?

„Noctana, Eliza, Caleb, Bob. Bitte entscheidet euch für eine der Beiden."
„Ophelia.", sagte Bob sofort, mit einem Blick auf Dylan.

„Tabea.", murmelte Caleb leise, wusste selbst nicht wieso.

„Tabea.", sagte Noctana angespannt. Alle Blicke richteten sich auf Eliza.

Wenn sie sich jetzt enthalten würde ...

Aber Eliza öffnete den Mund, bereit den ersten Buchstaben, das O, ausszusprechen, als Tabea den Kopf hob und ihre Blicke sich trafen.

Tabea formte mit dem Lippen nur stumm ein einziges Wort: „Bitte."

Eliza sah zu Luise und endlich verstand sie.

Tabea wollte sterben ... aber war sie auch bereit, Tabea zu verlieren?

„Entscheide dich bitte.", unterbrach die Spielleiterin harsch ihre Gedankengänge.

Eliza sah hoch und atmete tief durch: „Tabea."

Die drei Angeklagten waren erleichtert.

Dylan hatte überlebt, Ophelia ebenso – Tabea nicht. Und doch waren sie alle glücklich, jeder auf seine Art und Weise.

Soweit man in solch einer Situation überhaupt von wirklichem Glück reden konnte.

„Tabea.", sagte die Spielleiterin mit einer Stimme so süß wie Honig, zugleich aber auch so hart wie Nägel aus hartem Metall. „Warte bitte kurz, ich werde dir einen Stuhl holen. Ophelia, Dylan: Setzt euch wieder auf eure Plätze."

Ophelia sah Tabea besorgt an, setzte sich wieder auf ihren Platz neben Noctana. Dylans braune Augen trafen ihre – seine Mundwinkel zuckten. Erleichterung durchflutete Ophelia.

Es war nur ein kurzer Moment, dann sahen sie beide wieder weg.

Die Beine des Holzstuhles, den die Spielleiterin in die Mitte des Kreises, direkt hinter Tabea stellte schrammten über den Boden.

„Setz dich.", sagte sie zu Tabea und drehte sich dann zu all den anderen. „Das Zuhalten und Schließen der Augen, sowie jede andere negative Beeinflussung der Sicht ist verboten."


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now