Kapitel 82.

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Noctana wollte nicht in den Keller gehen. Sie wollte nicht dorthin zurückkehren, wo ihrer Meinung nach alles angefangen hatte.
Nicht dorthin, wo die erste Veränderung stattgefunden hatte, auch, wenn das nur das Verlieren von Farbe in ihrer Kleidung gewesen war.

Wie dumm kann man eigentlich sein? Hör auf deine Instinkte, verdammt noch mal! Dreh um! Dreh! Um! Wie -

„Halt die Klappe.", wisperte Noctana und zwang ihre Füße, den nächsten Schritt zu machen. Sie gehorchten nur widerwillig.

Die Treppe hatten sie längst passiert. Jetzt kam die Kellertür. Noctana fühlte sich wie betäubt, als sie über die Schwelle trat und ihre Augen sich an das noch schwächere Licht im Keller gewöhnen mussten.

Sophie drückte die Tür hinter ihnen wieder ins Schloss.

Niemand zwingt dich, das hier zu machen. Du weiß nicht, was dich erwartet: Aber du weißt, dass es nicht schön sein wird! Komm zur Vernunft, das hier ist kein Ort für irgendwelche Abenteuer-

„Halt die Klappe.", wiederhole Noctana, dieses mal lauter und heftiger. Entschlossener.

„Wie bitte?", fragte Nolan verwirrt.

„Nicht du!", sagte Noctana schnell.

„Ich weiß! Ich hab ja auch nichts gesagt. Wir reden aktuell so wenig wie auf einer Beerdigung!", meinte Nolan.

Die Kellerluft umhüllte sie wie ein schwerer Umhang. Es roch nach Staub, Rauch und Metall, außerdem hatte Noctana das Gefühl, all die Angst spüren zu können, die sich hier angesammelt hatte. Es war kein schönes Gefühl.

In ihrem Kopf hörte sie die Schreie der anderen, sah ihre Schatten durch die Gänge rennen. Noctana hatte nie gesehen, was den anderen alles in ihrer Zeit hier geschehen war. Was war ihnen angetan worden?
Was hatte sie gebrochen?

Waren sie dankbar, endlich spielen zu können und nicht mehr tagelang in Angst vor dem Spiel zu leben?

„Okay. Wo müssen wir entlang?", fragte Sophie und drehte sich erwartungsvoll zu Nolan und Noctana um.

„In die Küche ... Ich hab die mal versehentlich gefunden. Sie ist hinter einem Regal.", erzählte Nolan und drehte sich einmal im Kreis, als erwartete er, dieses Regal jetzt schon zu sehen.

„Wow. Welch akkurate Beschreibung.", spottete Sophie. „Hier entlang!"

Sie bogen nach rechts ab.

Dann nach links.

Zwei Minuten lang gingen sie geradeaus.

„Wir gehen den falschen Weg.", sagte Nolan dann.

„Hä?", machte Noctana und erschauderte, als sie eine Spinne mit scheinbar endlos langen Beinen in einer Ecke entdeckte. Unglücklicherweise blieben sie ziemlich genau vor dieser Ecke stehen.

Hätte Nolan nicht ein paar Meter weiter erst irgendetwas sagen können?!

„Das ist nicht der richtige Weg."

„Ach, kannst du das spüren oder was?!", meinte Sophie skeptisch.

„Nein, aber ich weiß es trotzdem. Ich war schon einmal an der Küche – und dieser Weg kommt mir absolut nicht bekannt vor. Wir müssen umdrehen.", erklärte Nolan.

„Gut. Lauf vor. Wir folgen dir, Nolan.", sagte Sophie aggressiv.

„Bin ich eigentlich der einzige, der wirklich Angst vor ihr hat?", wisperte Nolan. Noctana schüttelte den Kopf, den Blick immer noch auf die furchterregende Spinne in der Ecke gerichtet. Bewegte sich das Monster etwa gerade?!

„Spinnen sind gruselig.", flüsterte Noctana.

„Was?!", fragte Sophie belustigt. „Spinnen?! Du findest Spinnen gruselig?!"

„Sie sind so ... krabbelig.", meinte Noctana und fing an zu zittern, als die Spinne anfing, langsam die Wand hochzuklettern.

„Wenn du Angst vor Spinnen hast, dann musst du sie auf dir klettern lassen.", meinte Sophie achselzuckend. „Du musst deine Ängste besiegen, das macht dich mächtig.
Ich hatte einst Angst vor Spinnen."

„Was ist dann passiert?", fragte Noctana ängstlich. Sophie schluckte: „Die Spielleiterin hat mich, ähm ... in einen Raum gesetzt und auf einen Stuhl gefesselt. Dann hat sie eine Spinne auf meinen rechten Arm gesetzt. Dann eine auf meinen linken Arm.
Spinne um Spinne fing an, über meinen Hals und über mein Gesicht zu krabbeln."

Tränen schimmerten in Sophies Augen und ihr Kinn zitterte, doch ihr Tonfall blieb hart: „Die Spinne haben mir nichts getan. Und als ich den Raum verließ ... jedenfalls hat die Spielleiterin das die darauffolgenden Tage wiederholt. Manchmal hat sie mehr als zwei Spinnen auf meine Arme gesetzt.

Einmal waren es über zehn und sie waren überall ... eine von ihnen krabbelte über mein Augenlid.

Die Spielleiterin hat das so lange gemacht, bis ich nicht mehr zuckte, bis mir nicht mehr der Angstschweiß ausbrach.
Dann hatte ich meine Angst bezwungen."

„Das tut mir leid.", sagte Noctana mit belegter Stimme. „Du bist durch die Hölle gegangen."

„Ja. Ich ging durch die Hölle und jetzt bin ich die Hölle.
Die Spielleiterin hat uns in unsere persönlichen Albträume geschickt, jetzt sind wir persönliche Albträume.", stimmte Sophie ihr zu. „Ich kann es gar nicht erwarten, wieder in die Freiheit entlassen werden. Wir könnten die ganze Welt unterdrücken - denn wir sind die Angst."

Noctana wusste nicht, vor wem sie in dem Moment mehr Angst hatte - der Spinne, die sich ohne Zweifel bewegte, oder Sophie, deren Augen gefährlich glitzerten.

„Ähm, Sophie? Wir sollten eigentlich nur die Küche finden!", erinnerte Nolan sie vorsichtig. „Und ich fange an, mich langsam an den Weg zu erinnern, also sollten wir los!"

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Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now