Kapitel 55.

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Sophie lief zu Ophelia wie betäubt, sagte kein Wort, reagierte auf nichts und niemanden, obwohl viele ihren Namen sagten oder ihre Schulter antippten. 

Sophie wandte sich von ihnen allen ab.

Sie stellte sich neben Luise, genauer gesagt neben die Leiche des jungen Mädchens, das vor noch wenigen Stunden ihre Freundin gewesen war.

Sophie nahm Luises kalte, erschlaffte Hand, hob sie hoch und legte sie sich gegen die Wange.

„Luise.", sagte sie leise, aber nicht wirklich sanft.

Die ersten Tränen quollen aus ihren hellblauen Augen, sie umklammerte Louises Hand so fest, dass ihre Fingerknöchel rot hervortraten.

Und dann schrie sie.

„ES TUT MIR LEID!", brüllte Sophie, alle anderen, die ihr Zeit allein mit ihrer toten Freundin, Zeit für den harten Abschied gelassen hatten, stürmten nacheinander in das kleine Zimmer.

Entsetzten und Überraschung stand auf ihren Gesichtern, aber sie alle hielten Abstand zu dem Mädchen, das dort neben ihrer toten Freundin kniete und all ihre Gefühle aus sich herausströmen ließ.

„ES TUT MIR LEID!"

Sophie schrie die Worte genau in Luises Ohr, aber die Tote reagierte nicht.

Natürlich nicht.

„Sophie!"

Sophie hatte Luises Hand losgelassen und fing an, sich zuerst mit ihrer rechten, dann mit ihrer linken und wieder mit ihrer rechten Hand selbst zu schlagen.

Es war eine furchtbare Mischung aus Ohrfeigen und Faustschlägen, immer noch untermalt von ihren eigenen Schreien.

„SOPHIE!"
Ophelia schlang ihre Arme um die Ellbogen von Sophie, hielt sie davon ab, weiterhin auf sich selbst einzuprügeln.  

„LASS MICH LOS ODER ICH BRINGE DICH UM!"

Sophie bäumte sich auf, wand sich hektisch, biss nach Ophelia, aber die ließ nicht los.

Egal wie sehr Sophie sich wand, egal wie laut sie schrie – Ophelia hielt sie fest.

James, Manare und Wyatt griffen ebenfalls nach Sophies Armen, warteten bis Sophie damit aufhörte, um sich zu schlagen.
Noctana trat endlich, nach langem Zögern auch in den Raum, überlegte kurz ob sie ebenfalls zu Sophie gehen sollte, entschied sich aber dafür, auf Abstand zu bleiben.

„Es ist unfair.", zischte Sophie schließlich, entspannte ihre Arme und wartete bis die anderen sie wieder los ließen.

„Verrückte Idee: Wie wäre es, wenn wir sie irgendwo festbinden?", flüsterte James Ophelia zu.

„Theoretisch gesehen ist es schlau. Praktisch gesehen ist es Folter. Also nein nein.", erwiderte Ophelia.

„Das sollte eigentlich ein Witz sein."

„Er war nicht lustig."

„Ich kann euch hören, okay?!", fauchte Sophie wütend, wandte sich dann wieder Luise zu. „Sie hatte es nicht verdient."

„Niemand hier hat es verdient.", meinte Wyatt, sah das Gesicht von Lena vor seinem inneren Auge.

„Ja, aber ... ich hab niemanden mehr, okay? Warum hatte nicht ... warum hatte nicht James sterben können oder so?!"

Noctana schoss das Blut in die Wangen, nervös fing sie Wyatts Blick auf.

Er unterbrach den Blickkontakt, indem er zu Boden sah. Noctana sah wie seine Kiefermuskeln sich anspannten, als er die Zähne zusammenbiss.

„Ernsthaft?!", fragte Ophelia, in ihren Augen spiegelten sich gleichzeitig Ungläubigkeit und Wut.

„Was?", fragte Sophie herausfordernd. „Du hättest doch immerhin noch Wy-"

Ophelia trat vor, ihre Hand traf Sophies Wange so schnell dass Noctana kurz glaubte, sie hätte sich die Bewegung nur eingebildet.

Aber der Knall war unverwechselbar gewesen.

Sophie setzte zum Gegenangriff über, ihre langen Fingernägel schliffen über Ophelias rechte Wange, hinterließen oberflächliche Schürfwunden.

Wyatt sprang vor, hielt Sophie zurück, die ihn mit dem Ton einer Schlange gehässig anfauchte. 

Noctana drängte sich zwischen zwei Zuschauern durch, lief zu Ophelia und stellte sich neben sie: „Du blutest."

„Ich weiß.", antwortete Ophelia.

„Das war extrem dumm.", meinte Manare überflüssigerweise.

„Es war nötig.", gab Ophelia zurück.

„Ach ja? Wieso?"

Ophelia wandte sich ihr zu. Ihre Mundwinkeln verzogen sich zu einem Lächeln: „Wir sind nicht ihre Spielfiguren.
Und weißt du was? Wer weiß wie lange wir überhaupt noch leben werden! Oder wie lange sie noch leben wird! So viele Sachen verlieren schon an Bedeutung.

Wie heißt es doch so treffend? Angriff ist die beste Verteidigung. Sophie hat angefangen mit uns zu spielen, aber ich werde mich garantiert nicht von irgendeinem anderen Mädchen durchgehend beleidigen lassen!"

„Du wurdest dabei verletzt.", erinnerte Manare sie, verwirrt durch Ophelias ungenaue Antwort.

„Ich weiß. Ich hab angegriffen. Das heißt, theoretisch gesehen hat sie angefangen."

„Wie hat sie bitte angefangen?"

„Sie meinte, dass James vielleicht besser hätte sterben sollen. Sie ist anscheinend der Auffassung, dass sie alles sagen kann, ohne irgendwelche Folgen. Ich habe ihr nur gezeigt, dass es Folgen haben kann. Und dass es Folgen haben wird."

„Sie ist stärker als du, Ophelia."

„Könntet ihr bitte aufhören mich mit Fakten zuzuschütten, die ich schon kenne?! Ja, sie ist stärker. Aber ich bin schneller."

„Manchmal habe ich das Gefühl, du machst dir gerne Feindinnen.", meinte James, fing Ophelias Blick auf.

„Seid ihr dann fertig?", fauchte Sophie, sah von James zu Ophelia und wieder zurück.

„Ich denke schon.", sagte Ophelia trocken.


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now