Kapitel 30.

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Die Zeit verging.

Noctana wusste nicht genau, ob sie sich langweilte.
Irgendwie schon, andererseits stand sie aber extrem unter Spannung.

Jeden Moment konnte das Töten beginnen.

Jeden Moment konnten die Schreie ertönen, die niemand außer ihr und den Mördern hörte, weil niemand anderes aufwachen würde.

Jeden Moment konnte jemand, der ihr in den wenigen Tagen die sie hier verbracht hatte, schon ans Herz gewachsen war, sterben.

Aber dieser Moment ließ auf sich warten. Vielleicht sollte sie sich noch einmal hinlegen, sich wenigstens ein bisschen ausruhen?

Ihre Augenringe waren schon von Natur aus tief, morgen früh würden sie vermutlich wie zwei mondförmige Höhlen unter ihren Augen klaffen.

Noctana gähnte – und eine Tür öffnete sich langsam und knarzend. Eilig machte sie sich wieder klein und klammerte sich an dem Treppenabsatz fest.

Das hier war wirklich ihr kleiner persönlicher Rückzugsort geworden.

Zu dem ersten Knarzen ergänzten sich noch Schleiflaute und das leise Einrasten von gedrückten Klinken: Die Türen öffneten sich, und sie kamen heraus. 

Die Werwölfe.

Obwohl Noctana genau wusste, dass sie kommen würden, obwohl ihr klar war, wie furchterregend sie aussahen, mit ihren animalischen und zugleich menschlichen Körpern – sie erschrak.

Sie fing an zu zittern.

Die Augen der Wesen glühten boshaft, einer der Wölfe heulte grundlos laut auf, wurde dafür von seinen Artgenossen angefaucht.

Ein anderer Werwolf hatte den Kopf merkwürdig gesenkt, Noctana brauchte ein paar Minuten um zu verstehen, woran sie das erinnerte: Es war eine menschliche Pose, die nicht zu dem tierähnlicheren Wesen passte.

Es dachte nach.

Irgendwie war es verrückt: Das hier waren normale Jugendliche. Sie würde morgen mit ihnen in einem Raum sitzen, vielleicht sogar mit ihnen reden und sie würden antworten, weil sie Menschen waren, genau wie sie.

Aber nur zur Hälfte, scheinbar.

Das hier waren keine Monster! Es waren Kinder in ihrem Alter, die gezwungen waren all das hier zu tun, denen der Drang aufgelegt worden war, andere zu töten.

Noctana war derart in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie die Auswahl des Opfers verpasst hatte, genau so wie das Öffnen der Zimmertür. Das, was sie aus ihren Gedanken riss, war der Schrei.

Die Stimme war heller als ihre und so unglaublich laut, er ließ die Stille zerspringen wie Glas. 

Noctana zuckte zusammen, krümmte sich als hätte sie heftige Schmerzen.

Es musste enden! Es musste ENDEN!

Aber es endete nicht.

Der Schrei wurde lauter, stoppte, fing wieder an.

Schrecken, Furcht, Angst.

Der Schrei wurde erneut unterbrochen, heftige Schluchzer ertönten, entwickelten sich zu einem noch höheren Kreischen.

Noctana sah es vor sich. Der vor Schmerzen fast gelähmte Körper eines Mädchens ihres Alters, ihre weit aufgerissenen Augen.

Ein Mädchen, das das einzige tat, was sie noch konnte.

Schreien.

Noctana erinnerte sich an all das, was Ophelia ihr erzählt hatte.

An das Leid, das sie beschrieben hatte.

Die psychische und physische Folter durch den angeblichen Spezialunterricht, die Regeln, all diese Psychospielchen, wie das Färben der Kleidung.

Dieses Mädchen – sie schrie nicht nur wegen der wohl unerträglichen Schmerzen. 

Sie schrie wegen allem.

Sie schrie wegen jeder Wunde, innerlich und äußerlich, die ihr in diesem Haus zugefügt worden war.

Wegen jeder weiteren Stunde, die sie hier hatte verbringen hatte müssen.

Wegen dem Verlust von sieben ihrer Mitmenschen, vielleicht sogar Freunde, in der letzten Nacht.

Sie schrie.

Und es ging Noctana durch Mark und Bein.

Würde sie auch bald so schreien? Als entgültiger Abschluss?

Gab es vielleicht noch mehr Leute hier wie Erin, die sich nichts sehnlicher wünschten, als den letzten Schrei endlich hinter sich zu bringen, endlich alles beenden zu können?

Ihre Nase verstopfte, Noctana schmeckte Salz auf ihren Lippen. Sie weinte.

Sie weinte wegen allem.

Endlich schienen die Schreie zu enden, die Werwölfe versammelten sich wieder. Noctana zwang sich, sie weiterhin zu beobachteten, wischte sich die Tränen aus den Augen.

Sie wurden wieder menschlich. Als könnte das ihre Taten rechtfertigen.

Für sie war es wieder vorbei.

Sie hatten sich wieder zu Mördern gemacht, wieder einen ihrer Mitmenschen getötet.

Noctana fragte sich, ob ihnen das vielleicht sogar Spaß machte.
Oder ob sie lieber noch lauter Schreien würden als das soeben verstorbene Mädchen.


Werwolf - das BlinzelmädchenDonde viven las historias. Descúbrelo ahora