Kapitel 8.

169 38 19
                                    

Ophelia las ein Buch.

Die Seiten waren vergilbt und einige hatten Risse, das Cover kam Noctana nicht bekannt vor.
Es war dunkelbraun, die Schrift schwarz und somit fast unlesbar.
Die Ecken verzierten weiße Muster, die aussahen wie die Flügel eines Engels.

Während Ophelia vorsichtig eine Seite nach der anderen umblätterte, begann Noctana ihre Taschen auszuräumen.

Die beiden Mädchen teilten sich einen Schrank aus hellem Holz, der bereits zur Hälfte mit Ophelias Sachen gefüllt war.

Noctana betrachtete die Kleidungsstücke – alle, ohne Ausnahme, waren schwarz und grau.

Verwirrt sah sie wieder zu Ophelia, die immer noch las.

„Warum ist alles so ... farblos?", fragte Noctana.

Ophelia biss sich auf die Lippe. Eine Angewohnheit, die dafür sorgte, dass sich das dunkle Rot ihrer Lippen noch stärker von ihrer unnatürlich blassen Haut abhob.

„Die Sachen hatten mal mehr Farbe.", sagte sie dann.

„Was?"

„Hier sind keine Farben erlaubt. Das einzige was du tragen darfst, sind die unterschiedlichen Stärken von Licht. Von weiß bis schwarz, von strahlendem Licht bis zu kompletter Dunkelheit."

„Aber ich-". Noctana brach den Satz ab und holte ein dunkelblaues T-Shirt aus ihrem Koffer. „Nicht einmal blau?"

„Denkst du ernsthaft, in diesem Waisenhaus gäbe es Regeln, damit man Ausnahmen machen kann?", meinte Ophelia mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Warum dürfen wir keine Farben tragen?"

„Wer glaubst du, hat hier die Macht?"

„Ähm ... die Regierung.", sagte Noctana. Ophelia sah sie belustigt an: „Ernsthaft?! Ich meine genau hier. In diesem Haus."

„Die Heimleiterin."

„Die Spielleiterin.", korrigierte Ophelia, die mittlerweile ihr Buch zugeklappt hatte. „Sie ist die einzige, die Farben tragen darf. Es ist ein Zeichen von Macht: Ein Hinweis darauf, dass wir auf sie gehorchen müssen, dass wir ihre Spielfiguren sind. Sie hat das Spielfeld erstellt, auf dem wir uns nach ihren Regeln bewegen."

„Aber ich muss gegen die Regeln verstoßen!", sagte Noctana und und hob ein anderes, orangefarbenes T-Shirt hoch. „Ich hab nichts graues."

„Ich hatte für dich gehofft, dass du etwas hast.", seufzte Ophelia und stand auf. „Wie gesagt: Hier gibt es keine Ausnahmen. Entweder du hältst dich an die Regeln, oder ..."

Sie unterbrach sich selbst.

„Oder?", hakte Noctana nach.

„Sagen wir es so: Die Spielleiterin liebt es, uns leiden zu sehen.", antwortete Ophelia, biss sich auf die Lippe

„Warum machst du das dauernd?"

„Was?"

„Dir auf die Lippe beißen!", sagte Noctana. Ophelia zuckte zusammen, als hätte Noctana sie soeben eines Mordes beschuldigt.

„Ich mache das nicht wirklich ... bewusst. Das Lacrim Haus ist sowieso schon kein besonders angenehmer Ort. Durch die Spielleiterin wird es zur Hölle. Du hast von dem Spiel gehört, oder? Es klingt furchtbar, ich weiß.

Aber du musst wissen, dass fast alle von uns schon seit Monaten in diesem Waisenhaus sind. Und auch ohne das Spiel ist es hier kaum auszuhalten.

Vor allem wegen des sogenannten „Spezialunterrichtes". Die Hälfte von uns sollte mittlerweile in einer Psychatrie sitzten." Ophelia biss sich wieder auf die Lippe, bevor sie fortfuhr. „Fast alle hier haben mit der Zeit etwas entwickelt. Einige wurden depressiv, mehrere haben eine Essstörung, aber die meisten hier haben nur einen leichten Tick.

Fingernägelkauen, das Abreißen von Haut am Daumen ... oder eben sich ständig auf die Lippe zu beißen."

„Und du-"

„Ich habe noch Glück!", meinte Ophelia bitter. „Ich habe mich erstaunlich gut gehalten. Aber keine Angst: Wir sind keine Psychos oder so. Wir leben nur in einem wahr gewordenen Albtraum."


Werwolf - das BlinzelmädchenWhere stories live. Discover now