Kapitel 2.

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Mr Reginald lief geradewegs durch das geöffnete Tor.
Er hatte es schon etliche Male durchschritten und noch nie auf die detailliert gestaltete Musterung geachtet.

Er hatte noch nie wirklich die spitzen Enden des Tores gesehen, noch nie die Bedrohlichkeit dieses Tores wahrgenommen. 

Aber Noctana nahm sie war. Sie blieb mit ihrem Koffer in der linken Hand stehen, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete es. 

Es war hoch und noch grauer als der Himmel, sah aus, als könnte es die Wolken aufspießen. Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie die graue Wolkendecke anfing zu bluten, verletzt durch die Brutalität der speerähnlichen Spitzen.

Noctana ließ ihren Blick etwas weiter hinunter wandern und blieb an dem Muster hängen.

Fasziniert von den filligranen, flachen Figuren und Formen stellte sie ihren Koffer ab und trat noch näher an das Tor heran.

Zuerst erkannte sie nur grob einige menschliche Umrisse - dann bemerkte sie, dass es verschiedene Figuren gab, auch solche, die Tieren ähnelten.

Das Muster wiederholte sich anscheinend, aber gleichzeitig variierte es auch. Als würde es eine Geschichte erzählen.

„Ich verstehe wirklich, dass Sie das Waisenhaus nicht wechseln wollen. Aber Sie haben keine andere Möglichkeit, so leid es mir auch tut. Also bitte, Ma'am, kommen Sie!", rief Mr Reginald, der ein paar Schritte hinter dem Tor auf Noctana wartete.

Sie riss sich zusammen, nahm den Koffer wieder in die Hand und durchschritt das Metalltor.

Es war nur Einbildung.

Sie war sich sicher, dass es nur Einbildung war.

Doch von dem Moment an, in dem sie das Grundstück des Lacrim Hauses betrat, wurde ihr kalt. Nicht so, wie es im Winter geschah, wenn man Mütze und Handschuhe vergessen hatte.

Es war mehr, als würde sie von innen heraus vereisen, als hätte sie versehentlich eine Packung Eiswürfel verschluckt.

Noctana ignorierte dieses seltsame Gefühl, sah sturr nach vorne auf das Haus vor ihr.

Es war groß und aus grauem Stein gebaut, längst nicht so elegant wie der Zaun. Eine Regenrinne schlängelte sich an der Wand entlang, grobe Fensterrahmen standen etwas hervor, aus ein paar der eher kleinen Fenstern strömte schwach etwas Licht nach draußen.
Die Tür war seitlich angebracht, sie war klein und braun, scheinbar aus Holz gefertigt.  

Das ganze Haus erschien Noctana definitiv nicht vertrauenerweckend.

Es war keine Bruchbude, wie in all den Horrorfilmen, die sie mit ihren Freundinnen geguckt hatte, es war einfach ein Haus altmodischer Bauweise.

Es war scheinbar ein ganz normales Haus, einfach mit ein wenig gruseligem Charme.

„So, da wären wir also. Was denken sie?", fragte Mr Reginald und sah Noctana neugierig an.

„Würden sie gerne darin wohnen?", stellte sie eine Gegenfrage und umklammerte den Griff ihres Koffers fester, umklammerte den letzten Rest ihres alten, wunderschönen Lebens, wie ein Ertrinkender einen Rettungsring.

„Ehrlich gesagt, Nein. Es sieht irgendwie so ... abweisend aus. Da ist mir meine warme Wohnung doch lieber.", meinte Mr Reginald. Dann erst fiel ihm auf, dass er Noctana ihr neues, unfreiwilliges Leben gerade schlecht redete.

„Andererseits ist es bestimmt toll, mit so vielen Gleichaltrigen zusammenzuwohnen!", ergänzte er hastig.  

„Wie viele Kinder leben hier?"

„Hat man dir das nicht gesagt?", fragte Mr Reginald überrascht. „Mit dir sind es dreißig."

„Genau dreißig?"

„Genau dreißig. Warum fragst du?"

„Es ist irgendwie ... keine Ahnung. Lustig?", antwortete Noctana, aber es klang mehr wie eine weitere Frage. 

„Lustig.", wiederholte der Fahrer nachdenklich. „Na denn. Soll ich klingeln oder wollen Sie?"

„Sie können gerne.".

Mr Reginald drückte auf den Klingelknopf. Noctana hörte, wie der Ton drinnen laut widerhallte.

Es schepperte unangenehm, wie wenn Messer aufeinander prallten. Sie fragte sie, ob die anderen Kinder sich gerade die Ohren zuhielten.

Ein letztes mal drehte Noctana sich um. Das Tor stand noch offen.

Sie könnte einfach wegrennen, ganz neu anfangen. Aber was sollte sie schon machen?

Sie konnte nirgendwohin. Sie hatte niemanden.

Ihr gefiel es hier nicht, sie mochte Millers Hollow und das Lacrim Waisenhaus jetzt schon nicht.

Aber sie hatte keine Wahl.

Die Tür wurde von innen geöffnet.

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Was denkt ihr von dem Tor?

Wie stellt ihr es euch vor? (Oha, das reimte sich :-D)

Werwolf - das BlinzelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt