Kapitel 90.

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Sophie war ganz in ihrem Element.

Sie hatten sich zu viert vor der Spielleiterin aufgebaut, genauer gesagt bildeten Joseph, Eliza und Paige einen Halbkreis, in dem Sophie der Spielleiterin gegenüber stand.

„Sophie.", sagte die Spielleiterin trocken, während der Flur sich hinter ihnen langsam komplett leerte.

Paige hielt eine Art Heizungsohr in den Händen, Joseph knackte bedrohlich mit seinen Fingerknöcheln, und Eliza schien als Waffe nur ihren Blick verwenden zu wollen.

So standen sie erst einmal eine Weile da.

Sophie wartete, bis Gruppe drei mitsamt den Schablonen und den Kanistern vollständig aus dem Flur verschwunden war, bevor sie grinsend zur Spielleiterin sah: "Endlich."

Und dann sprang sie nach vorne und schlug der Spielleiterin mitten ins Gesicht. Die wich nicht einmal einen halben Zentimeter zurück und packte Sophie stattdessen unsanft an den Armen.

Paige schrie auf und ließ das Rohr auf den Kopf der Frau knallen, Eliza stolperte erschrocken einen Schritt zurück, und Joseph sah nervös den Kämpfenden zu, und tat so, als überlege er, wo genau er jetzt am hilfreichsten sein konnte.

Die Spielleiterin kreischte so schrill auf wie ein Vogel im Sturzflug, bevor sie die Krallen ausfuhr wie ein Adler, sich auf die hilflose Eliza stürzte und die Hände um den Hals des jungen Mädchens legte.

Sophie, deren Arme durch den Angriff der anderen wieder frei geworden waren, sprang auf den Rücken der Spielleiterin und versuchte so, sie von Eliza herunterzuzerren, während Paige weiterhin wie verrückt auf sie einschlug.

Doch keine von ihnen konnte irgendetwas erreichen.

„JOSEPH!", brüllte Sophie wütend, während ihr Gesicht vor Anstrengung knallrot anlief.

„Was?", gab Joseph überfordert zurück.

„HÖR AUF HERUMZUSTEHEN WIE EINE HÄSSLICHE SCHAUFENSTERPUPPE UND -"

Doch der Schrei der Spielleiterin, der noch lauter war als der von Sophie, übertönte sie alle bei weitem. Niemand verstand, was genau sie schrie, aber sie ließ ganz plötzlich von Eliza ab und warf sich stattdessen auf Joseph, der vor Überraschung umkippte und mit einem lauten Knacken auf dem Rücken landete.

„Eliza!", schluchzte Paige, schlug sich die Hände vor den Mund und ließ das Rohr fallen.

„Ist sie tot?", fragte Sophie.

Paige legte das Ohr an Elizas Mund, wartete auf das Heben und Senken des Brustkorbes. Doch es kam nicht.
Also nickte sie, während die ersten Tränen ihr Gesicht herunterliefen.

„Gut.", sagte Sophie grimmig. Paige sah sie irritiert an: „Wie bitte?!"

„Die Erklärung ist zu lang, um sie jetzt mit dir zu teilen. Vielleicht sollten wir zuerst Joseph helfen?"

Doch die Spielleiterin hatte ihre langen Fingernägel schon zu tief in seinen Hals gebohrt, als dass Sophie und Paige noch irgendetwas hätten unternehmen konnten.

„Scheiße.", flüsterte Paige.

„Was?"

„Wir sind nur noch zu zweit.", in Paiges Augen stand der pure Horror. „Ich kann das nicht!"

„Ach quatsch! Du machst das toll -"

„Sophie, ich kann das nicht! Ich kann das nicht mehr!"

Die Spielleiterin riss dem leblosen Joseph die Kehle heraus und wischte sich mit den blutverschmierten Fingern über die Stirn, bevor sie langsam auf Sophie und Paige zukam.

„Sophie?", wisperte Paige.

„Du kriegst das schon hin!", meinte Sophie augenrollend und holte endlich das bisher fast vergessene Messer aus ihrer Hosentasche.

„Es tut mir leid. Ich kann das nicht mehr."

„Was?! PAIGE-"

Doch Paige hatte sich bereits umgedreht und stürmte die Treppe herunter.

„Ihr seid wirklich ein wundervolles Team.", spottete die Spielleiterin.

Sophie verzog das Gesicht: „Das ist noch ein bisschen zu positiv ausgedrückt, würde ich sagen. Aber immerhin haben wir Leute, die überhaupt erst ein Team bilden können!"

„Ach ja?! Wieso stehst du dann allein hier?"

„Weil ich am tollsten bin.", meinte Sophie schulterzuckend. „Nun denn: Wollen wir es nicht endlich zuende bringen?"

„Weißt du, ich finde euch wirklich traurig! Ihr habt euch alle gerne kontrollieren lassen, und jetzt ganz plötzlich beschließt ihr, dass ich die Böse bin. Und das, obwohl ich euch quasi gerettet habe!"

„Gerettet?", Sophie spuckte auf den Boden. „Gerettet?!"

„Glaubst du, das Spiel hätte euch in Ruhe gelassen? Es begann bei eurer Geburt, nicht bei eurer Ankunft hier! Ich gab euch einen sicheren Ort um zu spielen, half euch, die Regeln zu verstehen -"

„Hören sie auf damit!"

„Ohne mich seid ihr nichts! Und das wisst ihr. Ich habe euch gerettet -"

"HÖREN SIE AUF DAMIT!"

Sophie stieß blind vor Wut das Messer vorwärts, doch es traf das Nichts.

Sie spürte, wie die Spielleiterin ihr eine Ohrfeige gab, doch sie wich nicht zurück, obwohl ihr Gesicht brannte wie Feuer und die Beine fast unter ihr nachgaben.
Außerdem hatte sie das Gefühl, plötzlich auf einem Ohr taub zu sein, was ihr mehr Angst machte als das meiste andere, aber sie hielt durch, rannte nicht weg und gab nicht einmal ansatzweise nach. 

„Gib auf.", zischte die Spielleiterin mit der Stimme einer Schlange.

„Gerne. Aber nicht vor ihnen.", erwiderte Sophie und umklammerte das Messer fester, bevor sie die Lunge der Spielleiterin fest fixierte.

„Vergiss es!"

„Sie haben mir gar nichts zu sagen!", fauchte Sophie und ging aufs Neue auf sie zu.

„Du hast keine Ahnung, was du tust! Ihr alle habt doch keine Ahnung!"

„Es ist nicht unsere Schuld, dass sie gerne Leute umbringen."

Und das Messer traf.

Die Spielleiterin? Die Unantastbare, die sie zu allem bringen konnte, ohne auch nur den kleinen Finger zu rühren?

Sie war nicht schwach, oh nein.

Kein schwacher Mensch kann zwei Leute so einfach umbringen und dreißig Jugendliche so einfach wie kleine Puppen kontrollieren.

Aber am Ende war die Spielleiterin auch nur ein Mensch.

Und jeder Mensch ist verwundbar.

Blut bedeckte Sophies Gesicht, das sie erst wenige Stunden zuvor von der gleichen Substanz gesäubert hatte, als sie das Messer für den nächsten Stoß ansetzte.

Doch die Spielleiterin sammelte in dem Moment ihre letzten Kräfte, formte eine Faust und schlug Sophie so fest gegen den Kopf, dass sie das Gefühl hatte, geköpft zu werden, Sterne sah und schließlich erschöpft auf die Knie sank.

War die Spielleiterin tot?

Hatte sie sie umgebracht?

Würde sie in den nächsten Sekunden selbst sterben?
Oder wurde sie nur ohnmächtig?

Sophie hörte noch, wie sie erschöpft ausatmete, nahm den Geruch von purem Blut wahr ... und dann wurde die Welt um sie herum schwarz.

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Was glaubt ihr?

Ist Sophie tot?

Ist die Spielleiterin tot?

Irgendwelche Theorien, wer in der Nacht noch sterben wird?



Werwolf - das BlinzelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt